Huftiere auf weltweiter Wanderschaft – ein Schatz der Biodiversität
| Text: Dr. Johanna Maria Arnold und Dr. Janosch Arnold |
Wanderungen bei Schalenwildarten sind Teil der natürlichen Lebensweise. Wir kennen diese hierzulande beispielsweise vom Rotwild, das zwischen Sommer- und Winterlebensräumen teils auf altangestammten Wanderrouten zieht, aber auch vom Rehwild im kleineren Maßstab. Global betrachtet gibt es große Wanderungen über weite Distanzen hinweg. Der Mensch beeinflusst durch seine Infrastruktur und Raumnutzung diese Wanderungsbewegungen massiv, und es kann zu negativen Auswirkungen auf der Individual- und Populationsebene von Wildtieren kommen. Eine globale Initiative, die Global Initiative on Ungulate Migration (GIUM), widmet sich diesen Herausforderungen.
Die Migration von Ungulaten (Huftieren/Schalenwild) ist ein grundlegender ökologischer Prozess, der die Verbreitung von Herden fördert. Initiiert werden diese Wanderungen meist durch die Suche nach Wasser, Äsung und Fortpflanzungsplätzen. Die Migration hat wiederum Auswirkungen auf die terrestrischen Nahrungsnetze. Wandernde Huftiere bilden die Beutebasis, die Populationen von Fleischfressern und Aasfressern aufrechterhält und die Artenvielfalt auf dem Land stützt. Wenn sich Huftiere in großen Gruppen bewegen, schaffen ihre Hufe und ihre Hinterlassenschaften wie Kot und Urin Bedingungen, die folgend (Mikro-)Habitate schaffen und so unterschiedliche Lebensgemeinschaften ermöglichen. Die Wanderungen der Huftiere haben auch den Menschen über Tausende von Jahren hinweg beeinflusst und enge kulturelle Verbindungen zwischen indigenen Völkern und lokalen Gemeinschaften, wie z. B. den Sami in Nordeuropa oder den Indigenen im russischen Norden, geschaffen.
Dennoch verschwinden in kürzerer Vergangenheit die Wanderungsbewegungen zahlreicher Schalenwildarten mit alarmierender Geschwindigkeit (Harris et al. 2016). Die Bemühungen von Wildtiermanagern und Naturschützern müssen noch eine Hürde überwinden: Die meisten Huftierwanderungen wurden nie detailliert genug kartiert, um einen nachhaltigen und wirksamen Schutz zu ermöglichen. Daher ist Wissenschaftlern wie Wildtiermanagern klar: Ohne eine strategische und gemeinschaftliche Anstrengung werden viele der großen weltweiten Migrationsbewegungen in den kommenden Jahrzehnten weiterhin eingeschränkt, unterbrochen oder verloren gehen. Glücklicherweise kann eine Kombination aus Raum-Zeit-Nutzungsdaten, historischen Aufzeichnungen sowie lokalem und indigenem Wissen die Grundlage für einen globalen Migrationsatlas bilden, der Naturschutzmaßnahmen und -politik auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene unterstützt.
Neue Technologien und Entdeckungen
Neue Technologien, wie z. B. die GPS-Telemetrie, ermöglichten eine präzise Kartierung von Fernwanderungen und dokumentierten, dass die Bewegungen von Huftieren auf der ganzen Welt vielfältiger und verhaltenskomplexer sind als bisher angenommen. Wenn diese Tierbewegungen mit dynamischen Karten saisonaler Ressourcen (z. B. Äsungsplätze oder Reproduktionsgebiete) verschnitten werden, zeigen sie unterschiedliche Migrationsmuster von Langstreckenbewegungen über Klimagradienten hinweg bis hin zu kürzeren Höhenbewegungen zum Zugang zu alpinen Lebensräumen. Neuere Entdeckungen erstrecken sich über mehrere Kontinente. Im Jahr 2014 wurde eine Zebrawanderung entdeckt, die sich über 500 km durch Namibia und Botswana erstreckt, ein neuer Rekord für diese Art (Naidoo et al. 2016). In der mongolischen Steppe wurde festgestellt, dass Gazellen im Laufe ihres Lebens ein Gebiet von etwa der Größe Ungarns (ca. 100 000 km2) erkundeten (Nandintsetseg et al. 2019).
Im Gambella-Nationalpark in Äthiopien entdeckten Forscher, dass die Weißohr-Moorantilope (Kobus leucotis) Wanderungen auf einem 860 km langen Rundweg, verbunden mit Bewegungen durch den Boma-Bandingilo-Nationalpark im Südsudan, unternimmt und so das bisher bekannte Zuggebiet der Art deutlich größer ist als bisher angenommen (Kassahuhn 2019). Auch die mittlerweile verfügbaren detaillierteren Bewegungsdaten führen zu neuen ökologischen Entdeckungen. Eine wichtige Erkenntnis legt nahe, dass das Migrationsverhalten bei einigen Arten eine Art Tradition ist, eine Kultur, die erlernt wird und zwischen den Generationen weitergegeben werden muss. In Nordamerika kamen Dickhornschafe (Ovis canadensis) und Elche (Alces alces) bei der Umsiedlung durch Menschenhand in neue Landschaften ins Schleudern. Erst über mehrere Generationen hinweg erlangten einzelne Gruppen das Wissen über die saisonalen Wanderungen wieder, um dann auf größerem Raum Äsung zu finden. Mit der Zeit wurden die einst umgesiedelten Populationen immer „wandernder“ (Jesmer et al. 2018). Diese Erkenntnisse um die Abhängigkeit von Wildtierpopulationen von ihrer immanenten Kultur stellt eine deutliche Warnung für den Naturschutz dar – nämlich, dass das Fortbestehen eines Migrationskorridors vom Überleben derjenigen Individuen abhängen kann, die über das nötige Wissen verfügen, um entlang ihnen bekannter Routen und Korridore zu ziehen.
Migrationen in Gefahr
Historische Berichte beschreiben zahlreiche verloren gegangene Migrationen. Die Millionen von Kap-Springböcken (Antidorcas marsupialis), die einst die Karoo-Landschaft Südafrikas durchzogen, wurden Ende des 19. Jahrhunderts durch Zäune, Krankheiten und Jagd ausgerottet. Im Kajiado-Gebiet in Kenia sind die Wanderungen von Gnus (Connochaetes sp.), Zebras (Equus sp.) und Thomson-Gazellen (Eudorcas sp.) aufgrund der Konkurrenz mit Nutztieren und der massiven Landumwandlung zusammengebrochen. Heute noch ziehen über 1,3 Millionen Streifengnus (Connochaetes taurinus) in einer 600 km langen Kreiswanderung zwischen den Weiten der Serengeti in Tansania und der Masai Mara in Kenia auf der Suche nach Wasser und Nahrung. Aber auch diese Wanderungen werden durch die immer größer werdende anthropogene Nutzung erschwert. Mit der Abschlachtung der durch Nordamerikas Weiten streifenden Abermillionen Bisons ging auch die Migration der einst so zahlreichen Art verloren. Die Yellowstone-Population ist eine der wenigen Bisonherden, die heute noch wandern (Plumb et al. 2009).
Barrieren schränken seit Langem die freie Bewegung wandernder Herden ein. Heutzutage werden die nomadischen Bewegungen Mongolischer Gazellen (Procapra gutturosa) und Khulans (Equus hemionus hemionus) durch Eisenbahnen und Grenzzäune eingeschränkt (Nandintsetseg 2019). In Botswana verursachten in den 1950er-Jahren errichtete Veterinärzäune den Tod von Hunderttausenden Gnus. Auf der russischen Kola-Halbinsel wurde durch den Bau einer Eisenbahn die wild lebende Rentierpopulation (Rangifer tarandus) geteilt, und die längste Wanderung der Region wurde so quasi eliminiert. In Europa müssen sich Rothirsche (Cervus elaphus) heutzutage durch eine Landschaft bewegen, die durch sich über Jahrtausende vollzogene menschliche Infrastruktur und Lebensraumfragmentierung geprägt ist, und saisonale Wanderungen zur Nahrungsaufnahme treten nur dort auf, wo ihre Routen nicht gestört werden.
Jüngste Schätzungen gehen davon aus, dass bis 2050 weltweit 25 Millionen Kilometer neue Straßen gebaut werden (Laurence et al. 2014), was die jahrtausendealten saisonalen Migrationen noch weiter einschränken und unterbrechen wird. Der
Klimawandel stellt eine zusätzliche Bedrohung dar, denn viele Huftierarten planen ihre Wanderungen so, dass sie Muster des Pflanzenwachstums, z. B. Austriebszeiten, und andere wichtige Wetterereignisse optimal ausnutzen. So synchronisieren viele Arten, wie z. B. auch das Rehwild, ihre Setzzeiten mit den Zeiten der besten Pflanzenverfügbarkeit in Quantität und Qualität. Dürren kommen immer häufiger vor und erschweren es den Tieren, sich zeitgleich mit der „Grünphase“ zu bewegen und Zugang zum besten Futter zu erhalten (Aikens et al. 2020). Im südlichen Afrika werden die Wanderungen von Zebras, Streifengnus und Afrikanischen Elefanten (Loxodonta africana) durch die Wasserverfügbarkeit vorangetrieben, die sich mit veränderten Niederschlagsmustern ändert und im schlimmsten Fall wiederum zu einem Populationsrückgang einiger Arten führt (Owen-Smith & Ogutu 2012). In der Arktis haben Barrenground-Karibus (Unterart: Rangifer tarandus groenlandicus) in den letzten drei Jahrzehnten als Reaktion auf den Klimawandel die Migrations- und Kalbungstermine um bis zu 0,5 Tage pro Jahr verschoben (Davidson et al. 2020). Vorläufige Trackingdaten deuten darauf hin, dass wilde Rentiere in der Taimyr-Evenk-Population in Russland ähnliche Reaktionen auf die Erwärmung der Arktis um 4 °C in den letzten 40 Jahren zeigen.
Ein extremes Beispiel wurde bei den gefährdeten „Dolphin and Union“-Karibus (Rangifer tarandus groenlandicus) im Kanadisch-Arktischen Archipel beobachtet: Auf ihrer Wanderung erleiden sie ein Massensterben, wenn sie dünnes Eis durchbrechen, das durch verzögertes Einfrieren im Herbst verursacht wird (Poole et al. 2010). Wandernde Huftiere sind daher durch Klimaveränderungen, die die Schnee-, Futter- und Wasserverteilung verändern, sowie durch Barrieren, die sie daran hindern, ihre Bewegungstaktiken an sich ändernde Bedingungen anzupassen, doppelt belastet.
Internationale Übereinkommen und Politik
Das Übereinkommen über wandernde Tierarten (Convention on Migratory Species, CMS) förderte den Schutz durch die formelle Anerkennung von Tierwanderungen seit dem Jahr 1979. Allerdings standen bis vor Kurzem keine ausreichend detaillierten Trackingdaten zur Verfügung, um die Wanderungen von Huftieren zu kartieren, was die Vertragsparteien des Übereinkommens daran hinderte, konkrete und effektive Maßnahmen zum Schutz der Wanderungen zu entwickeln.
Trackingdaten für Schutzmaßnahmen
Neue Technologien und Methoden ermöglichen nun eine detaillierte Kartierung von Korridoren aus Trackingdaten (Kauffman et al. 2018). Wenn Migrationspfade sowie Landschaften (und Habitatparameter) mithilfe eines geografischen Informationssystems überlagert werden, können Barrieren und andere Bedrohungen identifiziert werden. So können wirksame Schutzlösungen ermittelt und entwickelt werden. Weltweit erfordern Richtlinien zum Schutz der Huftierwanderungen in der Regel Migrationskarten oder Tierverfolgungsdaten, wie z. B. GPS-Daten aus der Satellitentelemetrie. Im Jahr 2008 wurde der Path of the Pronghorn („Der Pfad des Gabelbocks“ [Antilocapra americana]) in Wyoming (USA) zum ersten bundesweit geschützten Korridor als eine auf Telemetriedaten basierende Karte in den Bridger-Teton National Forest Plan aufgenommen. Dieser verpflichtet die Forstverwaltung und -bewirtschafter, Auswirkungen auf den Korridor bei ihren Planungen und Umsetzungen zu berücksichtigen. Im Jahr 2018 wurden die Tansania Wildlife Conservation Regulations unterzeichnet, die ein Mittel zur Ausweisung von Wildtierkorridoren zwischen den Schutzgebieten des Landes schaffen. Im Jahr 2011 unterzeichneten Angola, Botswana, Namibia, Sambia und Simbabwe einen internationalen Vertrag zur Schaffung der Kavango-Zambezi Transfrontier Conservation Area (KAZA). KAZA zielt darauf ab, ein Netzwerk von Schutzgebieten zu ermöglichen, die durch Ausbreitungskorridore und Migrationsrouten verbunden sind. Diese wurden aus Trackingdaten von Arten wie Streifen-gnus, Kaffernbüffel (Syncerus caffer), Zebras und Elefanten abgeleitet. In Kasachstan wurde der „ökologische Korridor“ Yrgyz-Torgai-Zhylanshyk – der erste seiner Art im Land – geschaffen, um die Migration der Betpak-Dala-Saiga-Population (Saiga tatarica) zwischen Schutzgebieten zu ermöglichen.
Telemetriedaten ermöglichten auch die Ausweitung von Schutzgebieten. In der Mongolei führten die Khulan-Wanderungen über die Grenze des streng geschützten Großen Gobi-B-Schutzgebietes während des extremen Winters 2009/10 zu einer Verdoppelung des Schutzgebiets im Jahr 2019. Für klassische Hin- und Rückwanderungen können abgegrenzte Korridore anhand empirischer Tracking-daten noch gezieltere Schutzlösungen identifizieren. In Wyoming (USA) beispielsweise ermöglichte die GPS-Kartierung eines stark genutzten Maultierhirsche-Korridors (Odocoileus hemionus) (Kauffman et al. 2018) den Forschern die Identifizierung eines 400 m langen Engpasses, der von etwa 5 000 Hirschen genutzt wird. Als dieses Land von einer Zerschneidung bedroht war, sammelte einer der größten amerikanischen Naturschutzorganisationen, The Conservation Fund, Mittel, um das Land als Wildtier-Lebensraum-Management-Gebiet zu erwerben und zu schützen. Die Aufzählung der Bedrohungen für diesen Korridor veranlasste den Bundesstaat Wyoming auch dazu, Migrationskorridore auszuweisen und sie so zu verwalten, dass „kein Nettofunktionsverlust“ erfolgt. Im ersten Quartal 2019 hat die US-Regierung 5 674 Hektar Öl- und Gaspachtverträ-ge auf Bundesebene zurückgestellt, weil Bohrungen als zu riskant für die ökologischen Funktionen des ausgewiesenen Korridors erachtet wurden (Kauffman et al. 2021).