Von der Jagdgöttin Skadi im Stich gelassen
| Text: Tobias Hatje |
Norwegen gilt als das spektakulärste Outdoor-Paradies in Europa und zählt mit seinen malerischen Gebirgs- und Fjordlandschaften zu den aufregendsten
Jagdrevieren. Und auch die Wildarten sind eindrucksvoll – Rentiere, Elchwild, Rotwild, Rehwild, aber auch Auerhahn und Birkhahn werden in Norwegen oft zur Strecke gebracht. Doch bei unserer Reise in das Land der tausend Fjorde war die Jagd nur ein Aspekt unseres Unterfangens: Wir wollten eine Woche ausschließlich von dem leben, was die Wildnis hergibt – wir wollten jagen, angeln, Beeren und Pilze sammeln. So, wie es schon unsere Vorfahren taten.
Fotos Florian Wagner
Es ist der dritte Tag unseres Survival-Trips, als Thomas am Morgen gegen zehn Uhr in unser kleines Camp in der Nähe des Norangerfjords zurückkehrt. Früh um sechs Uhr hat er sich auf die Pirsch gemacht, und zum ersten Mal ist ihm das Jagdglück hold gewesen: Einen Fuchs konnte er mit einem gezielten Schuss aus über 180 Meter Distanz zur Strecke bringen. Unser Outfitter hatte etwas erlegt, auch wenn es unsere Nahrungsnot nicht gerade verbesserte. Von Füchsen, die häufig von Krankheitserregern wie dem Fuchsbandwurm, von Viren oder Bakterien befallen sind, sollte man bei der Fleischverwertung die Finger lassen.
Also blieb es auch an diesem Tag bei einem heißen Kaffee und ein paar wenigen Beeren zum Frühstück – das war alles, was unsere Survival-Speisekammer hergab. Iréne ärgert sich, dass sie an diesem Morgen nicht mit auf die Pirsch gegangen war. Die Norwegerin, die auch als Model tätig ist und mit ihrer blonden Mähne auf den ersten Blick nicht in die raue Welt der Jäger zu passen scheint, liebt es, von den Erfahrungen und dem Know-how passionierter Jagdprofis zu lernen. Voller Hoffnung waren wir vor ein paar Tagen über Oslo ins Outdoor-Paradies Norwegen gestartet, gerüstet für eine Woche Selbstversorgung. Und bei der Crew konnte eigentlich nichts schiefgehen, das war unsere feste Überzeugung. Der Österreicher Thomas Hutterer ist ein erfahrener Jäger und Outfitter, der seit 17 Jahren in Schweden und Norwegen lebt. Unter seiner Führung, die er mit seiner Firma Skadi Tours anbietet, hatten wir die Chance, ein echtes Jagdabenteuer zu erleben. Skadi, benannt nach der nordischen Göttin der Jagd und des Winters, spiegelt Thomas’ Leidenschaft für die nordischen Regionen und seine Expertise in diesen Gebieten wider. Mit seinen vielfältigen Erfahrungen in den Wäldern Skandinaviens hat er sich den Ruf eines der besten Jagdführer der Region erarbeitet. An seiner Seite steht Florian Wagner, passionierter Abenteuer- und Outdoor-Fotograf und begeisterter Jäger sowie Helikopterpilot. Der gebürtige Oberammergauer war für spektakuläre Reportagen schon in der ganzen Welt unterwegs, so etwa bei den Adlerjägern der Mongolei, auf Reitsafari im südlichen Afrika oder als Aushilfs-Cowboy im Hunter Valley im östlichen Australien. Zudem die norwegische Jägerin Iréne K. Kristiansen, deren Leidenschaft für und das Wissen über die Jagd von ihrer Familie geprägt wurde. Die vierte im Bunde ist Regina Singelnstein, eine absolute Pferdeexpertin und Outdoor-Liebhaberin. Mit ihrem Partner Florian ist sie bei ihrem gemeinsamen „Abenteuer Irland“-Projekt quer durch Irland geritten. Ihr zweites Talent, Fische oder Fleisch über den offenen Flammen eines Feuers unfassbar lecker zuzubereiten, hatte sie schon bei dem Irland-Projekt unter Beweis gestellt – was leckere Grillsessions unter dem norwegischen Sternenhimmel versprach. Und auch ich hatte bereits reichlich Erfahrungen aus verschiedenen Expeditionen in Patagonien, Kaschmir und Alaska im Rucksack. Doch trotz meiner Vorliebe für die wilde Natur war mir die Jagd bislang fremd geblieben – ein echter Newbie also unter all den erfahrenen Jägern. Unser Basislager errichten wir in den Sunnmøre-Alpen, nur wenige Kilometer talaufwärts von Øye am Norangerfjord, abseits des Trubels.
Der Fjord verläuft parallel zum weltbekannten Geirangerfjord, seit 2005 UNESCO-Welt-naturerbe, ist jedoch deutlich einsamer und weniger frequentiert. Es seien hier die schönsten Fjordlandschaften und Täler in Norwegen, erzählt uns Thomas, der bereits mehrfach in dieser Region Jagdreisen organisiert hat. Die Bergflanken ragen steil ins graue Wolkenmeer bis auf 1 600 Meter hinauf; schmale, tosende Wasserfälle stürzen die fast senkrechten Felsen Hunderte Meter hinab ins Tal. Unsere drei kleinen Zelte und eine Jurte stehen neben einem kleinen Fluss, der sich in Richtung des Norangerfjords windet. Neben den Schlafsäcken, Isomatten, einem Kocher und zwei Angelruten haben die Jäger unter uns natürlich ihre eigenen Gewehre eingepackt. Thomas vertraut seiner Savage Renegauge Field Selbstladeflinte im Kaliber 12/76. Das Besondere an dieser Flinte: Zwei innen liegenden Ventile dosieren die zur Funktion notwendige Gasmenge – das Gewehr hat dadurch weniger Rückstoß, einen gleichmäßigen Hülsenauswurf und einen sehr schnellen Repetierzyklus. Iréne hat ihre 110 Ultralite Camo von Savage mitgenommen. Sie schwört auf diese Repetierbüchse, die mit dem kurzen kohlefaserumwickelten Edelstahllauf und ihrem geringen Gewicht perfekt ist, um sich auch in steilen und bergigen Gegenden sicher und leichtfüßig bewegen zu können. Durch das Savage AccuTrigger-System ist selbst auf große Schussdistanzen ein sehr präziser Schuss möglich. Florians Wahl ist eine Savage Flinte. „Davor müssen sich die Schneehühner in Acht nehmen“, feixt er bereits bei der Anreise. Die robuste Flinte mit Wechselchokes lässt sich durch die mitgelieferten Einsätze perfekt in Schränkung, Senkung und Länge an den Schützen anpassen. Damit wir uns nicht nur von Fleisch und Fisch ernähren müssen, haben wir ein paar Basics eingepackt: etwas Mehl und Butter, um Brot backen zu können, und für morgens noch Kaffeepulver. Das war es aber auch schon. Unsere Mission war „Into the „Wild“ spielen, wie Florian es umschrieb. Es war das Bedürfnis, sich mal wieder frei und unabhängig zu fühlen.
Die Sunnmøre-Alpen liegen knapp 300 Kilometer nördlich der Stadt Bergen, die mit 270 Regentagen und über 3 000 Millimeter Niederschlag pro Jahr als einer der regenreichste Orte der Welt gilt. Das hatten wir bei der Planung der Reise gegoogelt, aber hatten uns nicht wirklich weitere Gedanken darüber gemacht. Schließlich sind wir durchaus Kummer gewohnt, was das Wetter anbelangt: In den Ammergauer Alpen, der Heimat von Florian und Regina, und auch in meinem „Homespot“ Hamburg gibt es nasskalte und graue Regentage mehr als genug. Daher denken wir uns auch nicht viel dabei, als es an den ersten Tagen nahezu ohne Unterlass regnet. „Auf Regen folgt Sonnenschein“, das wussten schon die Gallier – hier bei den Wikingern wird es nicht anders sein, davon sind wir überzeugt.
Zusammen mit Thomas geht es trotz des Regens gleich am ersten Tag auf die Pirsch, in der Hoffnung, Rotwild zu sichten. „Bei schlechter Sicht und tief hängenden Wolken zieht sich das Rotwild meist in die höheren Regionen der Berge zurück“, dämpft jedoch unser Outfitter unser aller Euphorie. „Da kann sich das Wild vor den Unbilden des Wetters besser verstecken.“ Mit unseren Ferngläsern suchen wir die Wälder und Lichtungen am gegenüberliegenden Hang ab – soweit man durch den Nebel und die Regenwolken überhaupt etwas erblicken kann. Zwei Stunden lang sitzen wir stumm und starr da, blinzeln durch unsere Ferngläser und sehen – nichts. Zumindest nichts, was sich bewegt oder wie ein Stück Rotwild aussieht. Gegen Mittag brechen wir unseren Versuch ab, ziehen uns zurück in unser Basecamp. In Norwegen gibt es sowohl staatliche als auch private Jagdreviere, das Jagdrecht liegt dabei immer beim Grundstücksbesitzer. In unserem Fall ist es Ronny Norangshol aus Øye, den Thomas vor Antritt unserer Reise um die Jagderlaubnis gebeten hatte. Auf den staatlichen Flächen ist die Jagd auf Niederwild und Rentiere jedem gestattet, der seit mindestens einem Jahr in Norwegen lebt und gemeldet ist. Die Jagd auf Elche, Rotwild, Rehwild und Biber ist jedoch auch für ausländische Jäger möglich. Dazu muss man sich allerdings bei den staatlichen Forsten und Bezirksverwaltungen um eine Jagderlaubnis bewerben – mit Thomas waren wir da auf der sicheren Seite. Solange sich das Rot- und Rehwild jedoch in den oberen Berghängen versteckt, hilft uns das allerdings auch nicht.
Am Nachmittag wird aus dem starken Dauerregen leichter Nieselregen. Die Wolken hängen noch immer tief im Tal, die Sicht durch den grauen Schleier bleibt mies. Regina, Florian und ich beschließen, dass wir unser Glück, Beute für ein gemeinsames Abendessen zu machen, beim Angeln auf dem Fjord versuchen. Wir fragen Ronny Norangshol, er leiht uns gern sein kleines Anglerboot. Über dem Norangerfjord und unseren Köpfen kreist
majestätisch ein Seeadler. Mit ausgebreiteten Schwingen und gierigen Augen späht er nach Beute für seinen Nachwuchs. Geschickt erbeutet er mit seinen kräftigen Krallen im Sturzflug einen Fisch nach dem anderen. Wenige Meter von ihm entfernt versuchen wir vergeblich, mit unseren Angelhaken den gleichen Erfolg zu erzielen. „Was kann der, was wir nicht können?“, fragt Regina. „Fische fangen“, entgegne ich, während unsere Angelhaken leer bleiben. Nach Stunden frustrierender Angelversuche – der Regen ist inzwischen wieder stärker geworden – wird uns so langsam, aber sicher die Härte unserer selbst gewählten Herausforderung bewusst. Die Ausbeute beschränkt sich auf zwei magere Lachsforellen – eine karge Kost für fünf hungrige Leute. Die ständigen Regengüsse und das Knurren unserer Mägen werden zu den einzigen Konstanten in unserem Wildnis-Camp.
Mit jedem Tag, an dem der Himmel seine Schleusen öffnet, schwindet unser Glaube, die Natur tatsächlich beherrschen zu können. Inzwischen sind Zelte, Schlafsäcke, Klamotten, unsere Ausrüstung und auch die Gewehre klamm und feucht. Die nasskalte Witterung zieht uns körperlich und moralisch herunter. Unsere Zelte bieten kaum noch Schutz gegen die unerbittlichen Regengüsse, die jeden Funken Trockenheit verschlingen. Plötzlich fühlen wir uns dem Helden von „Into the Wild“, Christopher McCandless, sehr nah. Ihm war bei seinem Trip in die Wildnis Alaskas das Wetter zum Verhängnis geworden. So schreibt es der Autor Jon Krakauer in seinem Roman: McCandless hatte den Teklanika River überquert, das Wasser war niedrig, damals im April 1992. Doch als er im Juli den Rückweg antreten wollte, hatte sich der Fluss durch das Regen- und Schmelzwasser in einen reißenden Strom verwandelt, ihm war der Weg zurück in die Zivilisa-tion abgeschnitten. Der abgemagerte McCandless wurde im September verhungert in seinem Basecamp, dem Bus „Fairbanks 142“, gefunden. Angeblich hatten giftige Pilze und Wurzeln ihn so stark geschwächt, dass er keine Kraft mehr hatte, um Essbares zu suchen – so die Legende.