Aktuelles aus der Wildtierforschung in Deutschland
| Text: Dr. Johanna Maria Arnold |
Die Wildtierforschung liefert wertvolle Daten, auf deren Grundlage ein wissens-basiertes Wildtiermanagement durchgeführt werden kann. In Deutschland gibt es verschiedene wissenschaftliche Einrichtungen, die sich mit Wildtierthemen
auseinandersetzen. Auf einer bundesweiten Tagung, der Fachtagung der Vereinigung der Wildbiologen und Jagdwissenschaftler Deutschlands e. V., trafen sich im Mai dieses Jahres über 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, um ihre aktuellen Forschungsthemen vorzustellen und über die Herausforderungen und Lösungen hinsichtlich des Zusammenlebens von Menschen und Wildtieren zu diskutieren.
Alle zwei Jahre findet die Fachtagung der Vereinigung der Wildbiologen und Jagdwissenschaftler Deutschlands e. V. (VWJD) statt. Dort treffen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum und tauschen sich über aktuelle Aspekte der Wildtierforschung und des Wildtiermanagements aus. Im Jahr 2024 stand die Tagung unter dem Motto „Erforschung, Schutz und Management von Wildtieren im Anthropozän“. Als Anthropozän wird die aktuelle erdgeschichtliche Epoche genannt, die maßgeblich vom Menschen geprägt ist. Spätestens seit der industriellen Revolution beeinflusst der Mensch die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse. Dies führte zu der Zwillingskrise Klimawandel und Artensterben und wiederum zu veränderten Lebenswelten unserer Wildtiere. Mögliche Wildtierkonflikte entstehen, wenn menschliche Interessen mit tierischen Bedürfnissen und Verhaltensweisen kollidieren. Lebensräume verändern sich und mit ihnen die sich darin befindenden Lebensgemeinschaften. So verschwinden Arten in nie dagewesener Geschwindigkeit, gleichzeitig eröffnen sich Nischen für neue Akteure. Neben den ökologischen Fragen stellen sich auch immer drängendere Fragen des Zusammenlebens von Mensch und Wildtier. Wildtiere stehen zunehmend in Konkurrenz mit der menschlichen Nachfrage nach Rohstoffen und Raum für Infrastruktur und Freizeitgestaltung.
All diese Herausforderungen verlangen nach einem proaktiven und professionellen Handeln, nach einer Kooperation aller relevanten Akteure und nach dem Einsatz geeigneter Wildtiermanagementmaßnahmen. Dabei sollten die Maßnahmen evidenzbasiert sein; die Wildtierforschung und das Wildtiermonitoring liefern dafür die notwendigen Daten und Erkenntnisse. Aber auch die Vernetzung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Praktikerinnen und Praktikern sowie politischen Entscheidungsträgern ist von großer Bedeutung. Die Herausforderungen werden immer komplexer und erfordern auch immer komplexere Forschungsmethoden und -anwendungen; dies verlangt auch nach einer interdisziplinären Vernetzung, wie z. B. mit den Land- und Forstwissenschaften, dem Veterinärwesen oder den technischen respek-tive biostatistischen Wissenschaften. Die Wildtierforschung wird einerseits von der grundlegenden wissenschaftlichen Neugier getrieben, andererseits wird sie oft „problemorientiert“ gesteuert. Denn für die Beantwortung aktueller, praxisrelevanter Fragen, wie z. B. der Tierseuchenbekämpfung, der Wildschadenprävention oder der Eindämmung der negativen Effekte durch invasive gebietsfremde Arten, werden einfacher finanzielle Mittel bereitgestellt. Aber alle Forschung hat seine Berechtigung, und auch die Grund-lagenforschung oder die Methoden-erprobung sind unabdingbar, um die Mosaiksteinchen in der Annäherung an das Wissen über die Wildtiere und ihre Biologie und Ökologie exakt zusammenzusetzen. Im Folgenden werden einige auf der VWJD-Tagung 2024 vorgestellten Aspekte aus der aktuellen Wildtierforschung dargelegt.
Schalenwild
Eine flächendeckend durchgeführte Managementmaßnahme ist die Jagd. Sie wirkt direkt auf Wildtierpopulationen, indem sie sowohl die Populationsgröße als auch die Populationsstruktur beeinflusst. Darüber hinaus kann sie das Raum-Zeit-Verhalten von Wildtieren steuern. Die Wirkungskontrolle von Managementmaßnahmen ist wichtig, um die Zielerreichung zu evaluieren und gegebenenfalls anzupassen. Auch im Bereich des Wildtiermanagements sollte diese Art der Erfolgskon-trolle standardmäßig implementiert werden. Hasenfuß und Kollegen untersuchten am Beispiel Schleswig-Holsteins die Auswirkungen der Abschaffung des Abschussplans für Rehwild (Capreolus capreolus). Dort wurde das Landesjagdgesetz im Jahr 2016 dahingehend geändert, dass neben dem Schwarzwild auch das Rehwild ohne Abschussplanregelung bejagt werden soll. Die Ergebnisse zeigten, dass durch die Abschussplanabschaffung die Rehwildstrecke auf Flächen der Landesforsten signifikant gestiegen ist. Ein Anstieg war für beide Geschlechter und auch in allen Altersklassen sichtbar. Dieser Effekt konnte allerdings für die restlichen Flächen Schleswig-Holsteins nicht beobachtet werden. Bezüglich der Altersklassenverteilung war deutlich zu sehen, dass jagdlich stärker in die Jugendklasse eingegriffen wurde, die Kitze und einjährige Stücke umfasst. Die Untersuchung zeigte, dass die Gesetzesänderung eine räumlich heterogene Bejagung des Rehwilds hervorrief. Es wird empfohlen, weiterführend zu untersuchen, inwieweit Wildschäden in Forst- und Landwirtschaft in den stärker bejagten Gebieten reduziert werden konnten (Hasenfuß et al. [2024]: Planlos zum Erfolg? Eine Unter-suchung der Rehwildbejagung ohne Abschussplan in Schleswig-Holstein).
Ziel der Studie von Kröschel und Kollegen war es, die Habitatnutzung der Rothirsche (Cervus elaphus) im Rotwildgebiet Nordschwarzwald Baden-Württemberg, zu untersuchen und hierauf aufbauend Instrumente für ein konfliktarmes Management der Art zu identifizieren. Die Faktoren lichte Waldstrukturen als Indikator für Nahrungsverfügbarkeit, schälgefährdete Waldbestände sowie Waldwege wurden hinsichtlich der Habitatwahl von 37 GPS-besenderten Rothirschen in einem walddominierten Lebensraum untersucht. Alle drei Faktoren hatten einen signifikanten Einfluss auf die Habitatnutzung. Tagsüber selektierten die Rothirsche die verbleibenden ruhigeren Bereiche und hielten einen Sicherheitsabstand von durchschnittlich 50 m zu den Waldwegen ein. Nachts wurden die wegenahen Bereiche dagegen präferiert. Schäl-gefährdete Waldbestände spielten als Deckungsstrukturen in den Ruhephasen, aber auch in den Aktivphasen am Tag eine große Rolle. Vielversprechende Managementinstrumente bieten laut Autoren insbesondere die aktive Gestaltung lichter Waldstrukturen in größeren Dickungskomplexen sowie die Lebensraumberuhigung (Kröschel et al. [2024]: Konfliktarmes Management von Rothirschen [Cervus elaphus] in der Kulturlandschaft – Was können wir aus der Habitatnutzung der Rothirsche lernen?).
Die Wühlaktivität des Wildschweins (Sus scrofa) hat einen positiven Effekt auf den Fortbestand des Goldenen Scheckenfalters (Euphydryas aurinia) im Nationalpark Hainich. Der Falter ist eine europaweit geschützte Art, deren Bestände im Zuge des Landnutzungswandels großflächig zusammengebrochen sind. Die Kalkmagerrasen des Nationalparks Hainich, Thüringen, beherbergen heute eine der letzten großen Populationen der Art in Deutschland. Lange wurden die Magerrasen durch militärische Nutzung und Schafbeweidung offen gehalten, seit den 1990er-Jahren findet in den meisten Bereichen jedoch kein Management mehr statt. Trotz der Tatsache, dass mittlerweile fast 30 Jahre keine menschliche Nutzung erfolgt ist, konnten sich der Goldene Scheckenfalter sowie der Ehrenpreis-Scheckenfalter (Melitaea aurelia) im Untersuchungsgebiet halten. Ein entscheidender Grund hierfür ist die hohe Wildtierdichte. Besonders an den Wildschweinwühlstellen in den brachliegenden Kalkmagerrasen pflanzen sich beide Scheckenfalterarten weiterhin erfolgreich fort. Die Wildschweine schaffen durch das Aufbrechen des Oberbodens frühe Sukzes-sionsstadien und fördern somit die Keimung konkurrenzschwacher Pflanzenarten, die Wirtspflanzen der beiden Falterarten. Die zunehmende Verbuschung der Magerrasen können die Wildschweine aber auf Dauer nicht aufhalten (Scherer et al. [2024]: Wildschweine sichern als Ökosystemingenieure den Fortbestand von Tagfalterarten mit hoher Naturschutzrelevanz im Nationalpark Hainich).
Beutegreifer
Der Eurasische Luchs (Lynx lynx) wurde im Jahr 2016 nach Jahren der Ab-wesenheit im Pfälzerwald, Rheinland-Pfalz, wiederangesiedelt. Die Luchse wurden mit GPS-Halsbandsendern versehen. Mithilfe der GPS-Daten untersuchten Signer und Kollegen die Auswirkungen des Geländereliefs und der Straßennähe auf die Habitatwahl der Luchse. Die Ergebnisse zeigten, dass sich Luchse im Pfälzerwald nachts mehr bewegten als tagsüber und dass zwischen Tag und Nacht deutliche
Unterschiede in der Habitatselektion existierten. Tagsüber zeigten die Luchse eine starke Vorliebe für zerklüftetes Gelände und vermieden Straßen eher. Der Pfälzerwald bietet mit der verhältnismäßig geringen Straßendichte und seinen steilen, mit markanten Felsbändern versehenen Seitentälern den wiederangesiedelten Luchsen ein optimales Habitat (Signer et al. [2024]: Habitatnutzung und Bewegungsmuster von Luchsen im Pfälzerwald).
Wildtiermonitoring
Bereits seit 1958 werden Jagdstrecken in Deutschland verpflichtend erhoben. Vielfach waren sie in der Vergangenheit die einzige Datengrundlage für die Berechnung langfristiger Populationstrends und die Beurteilung
wissenschaftlicher Studien sowie naturschutz- und jagdpolitischer Populationsbewertungen. In der Wildtiererfassung Niedersachsen (WTE) werden seit 1991 flächendeckend Daten zum Vorkommen und zu den Populationsdichten registriert.
Strauß und Kollegen überprüften anhand der Beispiele von Rebhuhn (Perdix perdix), Feld-hase (Lepus europaeus), Baummarder (Martes martes) und Nutria (Myocastor coypus), inwieweit heute aus den Jagdstrecken auf Vorkommen und Populationsentwicklungen rückgeschlossen werden kann. Die Evaluation der Jagdstrecken anhand der WTE-Daten, die auf Einschätzungen der Revierinhaber beruhen, zeigen Einschränkungen auf. Denn neben Witterungseinflüssen und anderen biotischen Faktoren wirken sich vor allem auch Managementmaßnahmen auf die erzielten Jagdstrecken aus. Hier sind die jagdrechtlichen Vorgaben, die Jagdpraxis und die Motivation zu nennen. Die Jagdstrecken sind laut Autoren aktuell kein adäquater Weiser für die Populationsentwicklung oben genannter Arten, sind aber ein wichtiger Baustein in der Dokumentation von Wildtierbeständen sowie für ein Wildtiermanagement und für die Beurteilung einer nachhaltigen Nutzung unerlässlich (Strauß et al. [2024]: Jagdstrecken und ihre Grenzen als Weiser für die Populationsentwicklung: beispielhaft für Rebhuhn, Feldhase, Baummarder und Nutria).