behaltent uwer leben vnd stigent schnelle vff einen boum Wagemut und Übermut

| Text: Prof. Dr. Simone Schultz-Balluff |

Zur Jagd auf Schwarzwild im Mittelalter – Teil 2
Reihe: Die Jagd im Mittelalter und in der frühen Neuzeit

Ein Jagdunfall anno 1456 oder: Tödliche Eitelkeit

Zu Beginn seines 1456 entstandenen Romans ‚Melusine‘ schildert Thüring von Ringoltingen eine Jagdszene mit tödlichem Ausgang: Graf Emmerich reitet mit seiner aus 20 Jägern und zahlreichen Hunden bestehenden Jagdgesellschaft aus, um ein wildes swin (v. 119) zu jagen. Dieses flieht vor den Hunden (vnd ylte das swin vor denn hunden hin ‚und es floh das Wildschwein vor den Hunden‘, v. 120) und tötet viele der Jagdhunde (vnd erslůg dz swin gar vil hunde, v. 126 f.). Während der Jagd auf das Wildschwein werden Graf Emmerich und sein Neffe Reymond von der übrigen Jagdgesellschaft getrennt und sind bei Anbruch der Dunkelheit allein im Wald. Die beiden suchen sich einen Platz zum Übernachten und machen ein Feuer. Schließlich hören sie etwas durchs Holz brechen: Reymond greift zu seinem Schwert und der Graf zu seinem Jagdspieß. Die Überraschung lässt nicht lange auf sich warten, und es kompt dort har ein groß mechtig swin kleppfen mit sinen zenen vnd schumete gar vyentlichen (‚kommt ein großes, kräftiges Schwein wetzend und feindlich blasend heran‘, v. 172 f.). Reymond rät seinem Herren, auf einen Baum zu steigen und damit sein Leben zu retten: herre behaltent uwer leben vnd stigent schnelle vff einen boum (‚Herr, rettet euer Leben und steigt schnell auf einen Baum‘, v. 174 f.). Der Graf lehnt dies unter Verweis darauf ab, dass er sich nicht nachsagen lassen möchte, vor einem Wildschwein geflohen zu sein: das ich durch eines swins willen so schentlich fliehe (‚dass ich wegen eines Wildschweins schändlich die Flucht ergriffen habe‘, v. 178). Er greift seinerseits an, trifft das Schwein mit seinem Jagdspieß jedoch nicht richtig. Die Folge ist, das nůn das swin den spies ab slůg vnd in nider vff die erden warff (‚dass das Schwein den Spieß abschüttelte und ihn zu Boden warf‘, v. 180 f.). Reymond kommt Emmerich zu Hilfe, nimmt den Spieß, rutscht ab und trifft statt der Sau seinen Herrn tödlich. Er zieht den Spieß heraus und erlegt schlussendlich das Wildschwein: vnd stach das swin zů recht vnd fallete es (‚und trifft die Sau richtig und erlegte sie‘, v. 184 f.). Reymond kann seinen Herrn nicht retten, dieser stirbt noch im Wald, und Reymond als sein Nachfolger übernimmt die Herrschaft.

Was hier dargestellt ist, liest sich wie ein typischer Jagdunfall – allerdings anno 1456. Doch was ist schiefgegangen?

Der Sprung auf den Baum oder die richtige Technik

Zunächst einmal scheint Graf Emmerich die Gefährlichkeit des Wildschweins unterschätzt zu haben. Gaston Phoebus (Le Livre de chasse, Kap. IX) bringt es auf den Punkt: „Es ist das am besten bewaffnete Tier der Welt, das Mensch und Tier am raschesten töten kann; und es gibt wohl kein Tier, das es im Zweikampf nicht schneller tötete, als es selber dran glauben müsste […]. Denn weder Löwen noch Leoparden töten einen Menschen oder ein Tier mit einem einzigen Hieb, wie das Wildschwein es tut […], das Wildschwein aber stößt nur ein einziges Mal zu, gerade so wie man es mit einem Messer tun würde, so dass es seinen Widersacher getötet hätte, bevor es selber dran ist. Es ist dies ein hochmütiges und stolzes Tier, und sehr gefährlich obendrein […]. Einmal sah ich zu, wie ein Keiler einen Mann vom Knie bis zur Brust aufriss, ihn geradezu aufschlitzte und mit einem einzigen Stoß zu Boden warf, ohne einen einzigen Laut; und auch ich selbst wurde schon mehrere Male zu Boden geschickt, ich und mein Ross, wobei mein Ross getötet wurde.“ (Übersetzung aus: Das Buch der Jagd, 2021).

Graf Emmerich greift zum Jagdspieß, der für die Jagd zu Fuß angemessenen Waffe, allerdings trifft er nicht richtig. Vermutlich hat er den Schaft nicht mit beiden Händen gehalten und unter der Achsel eingeklemmt und damit sein ganzes Gewicht eingesetzt (so die Empfehlung von Gaston Phoebus, Le Livre de chasse, Kap. LIV). Eine weitere Möglichkeit ist, den Schaft des Spießes auf den Erdboden zu setzen, wie im Jagdbuch des Petrus de Crescentiis beschrieben (Kap. 16; vgl. auch HALALI 01/2023). Korrekt ist, dass Reymond nicht sein Schwert benutzt, das er ja in Händen hält, sondern die Situation richtig einschätzt und zu dem Sauspieß greift. Mit dem Schwert wird Schwarzwild ausschließlich vom Pferderücken aus, also von schräg oben, erlegt. Auch hier gilt, das Schwert mit beiden Händen zu führen und das gesamte Körpergewicht einzusetzen, um den Stoß wirkungsvoll auszuüben. Mit beiden Waffen muss der tödliche Stich richtig platziert sein, d. h. auf Schulterhöhe. Die beiden Möglichkeiten des Abfangens werden in Le Livre de chasse (Kap. LIV) illustriert.

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