Der letzte Kaiser

| Text: Dr. Wolfgang Fleck |

Wilhelm II. ist eine schillernde Figur. Politisch ist er ambitioniert und reaktionär. Er interessiert sich lebhaft für moderne Technik, er fördert die Industrie und forciert die Flottenrüstung. Er jagt leidenschaftlich gerne, gekonnt und bisweilen auch ohne jegliches Maß. HALALI-Autor Dr. Wolfgang Fleck wirft einige Schlaglichter auf den Monarchen, Menschen und Jäger.

27. Januar 1859, Berlin, Unter den Linden, im Kronprinzenpalais: Victoria Adelaide Mary Louisa, Prinzessin von Großbritannien und Irland, die Frau Friedrich Wilhelms, des späteren Kaisers Friedrich III., kommt nieder. Ihr Kind befindet sich in einer unglücklichen Steißlage. Die Mutter schreit vor Schmerz und wird mit Chloroform betäubt. Das Kind kommt zur Welt, indem man seinen linken Arm als Hebel benutzt, um es zu drehen. Doch der Schreck hält an, es atmet nicht. Die Hebamme wird den Kleinen mit einem nassen Handtuch förmlich ins Leben schlagen: Wilhelms Geburt ist schwer, geradezu fürchterlich. Bald stellt sich die Behinderung des Prinzen heraus; der linke Arm ist schlaff. Die Behandlungen beginnen, doch sie wollen nicht glücken. In ihrer Ratlosigkeit verlegen sich die Ärzte auf Zwang. Der gesunde Arm des Zweijährigen wird über Stunden hinweg festgebunden, damit er endlich den linken einsetzen möge. Infolge der Komplikationen bei der Geburt leidet Wilhelm zudem an einem schiefen Hals. Skizzen zeigen den Kleinen, wie er in Arm- und Kopfstreckmaschinen steckt. Mit sechs Jahren wird er am Hals operiert.

Das Bett des Prokrustes

Man kann sich sein Leben, seine Zeit und oft auch seine Rolle nicht aussuchen. Wie viele Leben beginnen im metaphorischen Bett des Prokrustes? Man zwängt den kleinen Menschen hinein; man will sein Bestes, auch wenn es ganz und gar nicht zu ihm passen will. So entsteht eine private Tragödie, im Falle eines Thronfolgers vielleicht die Tragödie eines ganzen Landes. Wilhelms Mutter hegt wegen des Geburtsschadens einen tiefen Groll gegen den entbindenden Arzt, Eduard Arnold Martin, und gibt ihrem Erstgeborenen nur wenig Wärme. Sie ist der Auffassung, dass der junge Wilhelm streng erzogen werden soll; man müsse ihn gründlich auf seine königlichen und kaiserlichen Pflichten vorbereiten. Auf ihren Wunsch wird der Calvinist Georg Ernst Hinzpeter Wilhelms Lehrer und Mentor. Hinzpeter gilt als kühl, trocken und wenig empathisch. Wilhelm und er kommen nur schlecht miteinander aus. Hinzpeter bescheinigt dem jungen Prinzen einen „fast krystallinisch hart gefügten Egoismus“. Wilhelm wiederum erinnert sich an die für ihn quälenden Reitstunden mit Hinzpeter: Wegen seiner Behinderung kann er als Knabe kaum die Balance auf dem Rücken des Ponys halten; doch Hinzpeter zwingt ihn, es immer wieder zu versuchen, „trotz tränenreichen Widerwillens“. Im Jahr 1888, das als Dreikaiserjahr bekannt werden wird, besteigt Wilhelm nach einem kurzen Interregnum seines Vaters mit nur 29 Jahren den Thron und wird die Regierungsgeschäfte für 30 Jahre übernehmen. 1914 taumelt Europa fast schlafwandlerisch in ein Inferno aus Stahl, Blut und Feuer, nicht zuletzt aufgrund Wilhelms Rüstungspolitik. Vier Jahre später endet das Kaiserreich in den Revolutionswirren. Scheidemann und Liebknecht rufen im November 1918 die Republik aus. Wilhelm dankt ab. Er zieht sich in die Niederlande zurück und lebt ab 1920 im Haus Doorn. Weitere Schläge treffen ihn alsbald: Einer seiner Söhne, Prinz Joachim, begeht im Sommer 1920 im Alter von 29 Jahren Selbstmord. Im April 1921 stirbt Wilhelms Frau, Auguste Viktoria. Die Weimarer Republik, den Aufstieg Hitlers und den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erlebt er aus dem Exil. Als im Sommer 1940 Paris fällt und die Franzosen kapitulieren, sendet er eine Depesche an den unseligen Feldherren; an den deutschen Sieg von 1870 will Wilhelm anknüpfen und zitiert sogar die Worte seines Großvaters: „Welche Wendung durch Gottes Fügung“ Ein gutes Jahr später stirbt er, in seinem 83. Lebensjahr. Er ist nie wieder nach Deutschland zurückgekehrt.

Das Revier in der Schorfheide

Mit der Jagd kommt der junge Wilhelm früh in Kontakt. Sein Großvater und Namensvetter Wilhelm I. gilt als besonnen, als ein Jäger, der im besten Sinne des Wortes die Grundsätze der Weidgerechtigkeit befolgt. Er verachtet Gatterjagden, er zieht die Pirsch vor. 385 Hirsche hat er geschossen. Was uns heute als unmäßig vorkommt, ist für einen Potentaten der alten Schule geradezu bescheiden. Sein Enkel, Wilhelm II., bringt es in weitaus kürzerer Zeit als aktiver Jäger auf über 2 100 Hirsche. Seine Lebensstrecke wird auf über 78 000 Abschüsse beziffert.

Als er 1888 mit 29 Jahren den Thron besteigt, regiert er auch jagdlich durch: „Ich befehle“, so ordnet er lapidar und unverblümt an, „daß in meinem Jagdgehege Schorfheide als Jagdart nur die Pürsch stattfindet. Die jagdbaren Hirsche werde ich allein schießen.“ Als Monarch kann er es sich nun endlich leisten, das Weidwerk ganz nach eigenem Gusto zu betreiben. Fürst von Pleß, der kaiserliche Oberstjägermeister, wird den Befehl umsetzen. Die jagdliche Initiation Wilhelms ist demgegenüber recht bescheiden: Im Jahr 1876, als Jugendlicher von 17 Jahren, erlegt er auf einer Treibjagd einen Fuchs. Zur Hofjagd in sein späteres Revier, die Schorfheide, wird er erstmals 1877 eingeladen, nicht ohne vorher eine Einweisung zu erhalten: Im August ist er unter der Leitung des Oberförsters auf der Pirsch – und erfährt die Strapazen der Jagd erstmals hautnah. Es regnet; das Wasser sammelt sich auf dem Grund. Eine knappe halbe Stunde lang kniet der junge Wilhelm in einer Lache, bis der Hirsch richtig steht und der Schuss fallen kann.

Sie finden den Artikel spannend und möchten ihn gern weiterlesen?
Dann lohnt es sich, das ganze Heft zu kaufen.