Der Punzer

| Text: Anna Lena Kaufmann |

Früher fuhr Mario Marquardt zur See, heute verziert er eichenloh-gegerbtes Rindsleder mit Ornamenten, filigranen Mustern und schönen Bildern. Zu seinen prominentesten Kunden zählten der Scheich von Bahrain und der König von Thailand. Der 72-jährige Hamburger ist einer der letzten Punzer des Landes. Wir haben ihn in seiner Werkstatt besucht.

Mario Marquardt ist eine kleine große Sensation. Alle wichtigen überregionalen Zeitungen haben schon über ihn geschrieben – von der „Bild“ über die „Die Welt“ bis hin zur „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Er war zu Gast in der Sendung „Talk op Platt“ im NDR Fernsehen, und sogar n-tv berichtete über den „letzten Mohikaner“. Stolz ist der Hamburger Lederkunsthandwerker nicht darauf, einer der letzten seiner Art zu sein, „aber es ist ganz beruhigend, dass die Leute nirgendwo anders hingehen können“.

Den Anfang nahm alles mit einem Sattel, genau genommen mit einem Cowboysattel. Mario Marquardt brachte ihn von einer seiner vielen Seefahrten aus den USA mit. Das war in seinem „ersten Leben“, wie er selbst sagt. Jenen Sattel tauschte der ehemalige Chief Steward der Reederei Hapag-Lloyd bei einem Landgang in Schweden – er besuchte seine damalige Freundin, die auf einem Bauernhof mit Pferden lebte – gegen einen Armeesattel ein, den er wiederum bei der nächsten Gelegenheit gegen einen neuen Cowboysattel einlösen wollte. Dazu kam es allerdings nicht. Also „baute“ er sich selbst einen Sattel und stellte schnell fest, dass man „mit Leder mehr machen kann als mit Tauwerk“ – der Beginn einer Leidenschaft. Zuvor fertigte er zum Zeitvertreib an Bord Buddelschiffe oder Zierknoten.

Das notwendige Equipment für seine Lederarbeiten besorgte Marquardt sich auf Zwischenstopps in Lateinamerika, Mexiko und den USA, wo das Punzieren von Leder in der Cowboy- und Reitsportszene bis heute eine große Bedeutung hat. Schnell hatte der umtriebige Seemann ein eigenes, umfangreiches Arsenal von Punzen (spezielle kleine Stempel) und Ledermessern beisammen. Parallel las er Fachbücher aus aller Welt und nutzte seine Freizeit, um Könnern dieser Handwerkskunst auf die Finger zu schauen. „Es dauerte eine Weile, bis ich mit meiner Sattlerarbeit und den punzerischen Ausführungen zufrieden war“, erinnert sich Mario Marquardt an seine Anfänge. Durch seine unermüdliche Ausdauer, seine kreative Ader und nicht zuletzt sein Talent produzierte er noch während seiner Steward-Tätigkeit für ein Hamburger Unternehmen im Zweimonatstakt rund 80 feinste Ledergürtel. Kurz vor Ende seiner Seefahrerkarriere wurde Marquardt zufällig durch einen Zeitungsartikel im „Hamburger Abendblatt“ auf das 1931 gegründete Traditionsunternehmen Vanino & Henkel aufmerksam, bei dem damals wie heute Lederschnitt und Punztechnik zur täglichen Arbeit gehören. Mit 39 Jahren wagte er – nach 23 Jahren auf See – den Neustart und schulte zum Sattler mit Schwerpunkt Punzieren, Vergolden und Prägen bei Vanino & Henkel um. Dort ist er bis heute geblieben. 2005 hat Mario Marquardt das Geschäft ganz übernommen. Die Werkstatt in Hamburg-Hamm gleicht einem Museum. In jeder Ecke der 120 Quadratmeter großen Betriebsstätte gibt es was Spannendes zu entdecken: Auf den Tischen finden aktuelle Werkstücke nebst Schablonen und allerhand Werkzeugen Platz, in den Regalen türmen sich Kartons und Lederrollen, an den Wänden sind prächtige Sättel aufgebockt. Was für den Besucher nach einem wilden Durcheinander ausschauen mag, ist für den herzlichen Inhaber „geordnetes Chaos“. Viele seiner Maschinen sind Jahrzehnte alt, einige über 180 Jahre. Die ältesten Prägestempel stammen aus der Zeit um 1840. Besonders beeindruckend ist die zwei Meter hohe Prägemaschine. Mit Hebelwirkung bringt Marquardt gute zehn Tonnen auf die Prägeform. Das Punzen hingegen erfordert mehr Fingerspitzengefühl. Von Hand werden kleinste Formen mit einer Art Metallstempel ins Leder geprägt. Dazu schlägt der geübte Kunsthandwerker mit einem Rohhauthammer auf fingerlange Stifte, die meisten handgeschmiedet, wodurch die Motive – beispielsweise Sterne, Blüten, Linien und Muster – sich dauerhaft ins Leder einbetten. In mühevoller Kleinstarbeit entstehen ganze Bilder. Punzierte Leder können zur weiteren Ausschmückung bemalt, mit Blattgold belegt oder mit transparenten Lederfarben patiniert werden.

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