Des Ersten Tod, des Zweiten Not, des Dritten Brot.

| Text: Dieter Stahmann |

Das Moor hat nicht den hohen Mythos des Waldes, aber es birgt ebenso Geheimnisse und Wunder. HALALI-Autor Dieter Stahmann wuchs zwischen den großen norddeutschen Mooren auf und erlebte in seiner Jugend eine fast ursprüngliche Natur- und Lebenswelt.

Das Moor ist dem Menschen unheimlich, weil es ihm keinen Halt bietet. Es gilt dazu als tückisch, da man seiner Oberfläche nicht ansehen kann, ob es den Menschen trägt oder ihn plötzlich versinken lässt. „Oh schaurig ist`s, übers Moor zu gehen“ dichtete Annette von Droste-Hülshoff. Wer aber mit dem Moor vertraut ist, für den hat es keinen Schrecken, und der findet nicht nur Wege durch diese letzte Wildnis, sondern er lernt auch ihre Geheimnisse kennen, wenn er still wandelt und seine Augen offen sein lässt, wie es Hermann Löns in seinem Gedicht fordert. 

Stolze Wälder gibt es nicht im Moor, und die Flora besteht überwiegend aus den Arme-Leute-Pflanzen Birke und Heidekraut. An offenen Wasserstellen findet man Schilf und die braunen Rohrkolben, die bei uns Kindern Lampenputzer hießen, weite Flächen von Wollgras mit den weißen Flöckchen, und wenn man sorgfältig hinsieht auch den Sumpfkalla mit seinen eleganten Blüten. Wenn man ganz viel Glück hat kann man auch den Sonnentau entdecken, der für uns Kinder natürlich sehr geheimnisvoll war, denn er war ja eine Pflanze, die lebende Tiere fraß. Als angehender Naturforscher brachte ich natürlich einen Sonnentau nach Hause, pflanzte ihn in einen Blumentopf und versuchte ihn mit gefangenen Stubenfliegen zu füttern. Irgendwie schmeckten ihm die domestizierte Nahrung wohl nicht und ich musste seine verschrumpelten Reste schließlich dem Komposthaufen überlassen.

Auf den sauren Wiesen am Rande des Moores, die die Bauern mühsam urbar gemacht hatten, wuchsen auch noch andere seltene Blumen, aber ich war schon als Junge mehr an der Tierwelt interessiert , was ja schließlich in meine verwerfliche Leidenschaft für die Jagd mündete. Mit ihrer Tierwelt aber konnte das Moor damals in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch etwas ganz besonderes bieten, nämlich das Birkwild.

Von einem Schulfreund, dem Sohn eines naturbegeisterten Arztes, wurde ich schon mit fünfzehn Jahren in das große Abenteuer der morgendlichen Birkhahnbalz gelockt. Die Sonntagmorgen ab Mitte April sahen uns beide schon um vier Uhr früh auf unseren Fahrrädern in Richtung Moor verschwinden, denn man musste noch im Dunkeln an einer gut gedeckten Stelle vor einer größeren freien Fläche sitzen, wenn man das großartige Schauspiel erleben wollte. Solche Stellen hatten wir natürlich am Tage schon ausgewählt und uns den Weg gemerkt, da unsere Pirsch ja nicht im Dunkeln in einer Torfmoorkuhle enden sollte. Sobald ein erster Lichtstreifen im Osten erschien, begann das polternde Einfallen der Hähne, und noch bevor die Dämmerung richtig begann, konnte man das erste Kullern eines Hahnes hören, dem sich immer mehr anschlossen, bis das ganze Moor erfüllt war von einem gleichmäßigen Wummern und Brummen. Die ersten Hähne fielen auch auf unserem Platze ein, begannen ihren kreisenden Trippeltanz zu ihrer dumpfen Musik, verhofften und ritten wieder ab, wenn sie das Gefühl hatten, dass sie von den irgendwo sitzenden Hennen nicht genügend beachtet oder von einem stärkeren Hahn bedrängt wurden. Doch plötzlich wurde das Kullern weniger, schließlich wurde es ganz still, und aus unserem Versteck konnten wir die ersten Strahlen der Sonne entdecken – es begann die Andacht beim Sonnenaufgang. Wir konnten aus unserem Versteck die Sonne nicht sehen, aber wir sahen von ihren immer stärker werdenden Strahlen, dass sie sich jetzt langsam über den Horizont erhob, und unser Birkwild erwartete stumm die Vollendung der Geburt der Sonnenkugel. Wir fröstelten natürlich in unserem lockerem Versteck, aber uns war dabei ganz feierlich zu Mute, bis dann wieder ein erster Hahn anfing, in das Schweigen hinein zu kullern, und bald war das Moor wieder erfüllt von einem gleichmäßigen Brummen, vom Liebeslied der schwarzen Ritter. Ich habe mich später viel mit der Evolutionstheorie befasst, aber eine evolutionäre Begründung für diese Sonnenandacht der Birkhähne habe ich nicht gefunden. Vielleicht gibt es doch mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich von unseren wissenschaftlichen Theorien nicht erklären lassen.

Außer den Birkhähnen gab es an diesen wunderschönen Frühlingsmorgen auch viele andere seltene Vögel zu entdecken, es war schließlich die Zeit des Vogelzuges. Auffällig war das sirenenartige Lied des Großen Brachvogels, wenn er irgendwo startete oder niederging, das Rufen der streichende Kiebitze, und nicht zu übersehen war auch der Rotschenkel an den sumpfigen Stellen, oder die kleine Kranichgruppe, die sich offenbar mit ihrem Reisetermin verspätet hatte und nun würdig in unserem Moor herumstelzte. Das Moor war um diese Zeit ein Paradies, aber leider war das alles schon in den sechziger Jahren vorbei, als Erdöl entdeckt und das Moor durch Straßen und Entwässerung erschlossen wurde.

Das Moor war ursprünglich eine Allmende, also ein gemeinsames Eigentum der Fleckenbürger bis zu seiner Aufteilung auf die Bürger des Fleckens (Gemeinheitsteilung) in der Zeit um 1885. An einigen trockeneren Stellen konnte man Schafe in der Besenheide weiden lassen, aber hauptsächlich wurde das Moor zum Torfstechen genutzt, und Torf war das übliche Heizmittel für den Küchenofen. Nach 1945 besann man sich gezwungenermaßen auf diese urtümliche Form des Heizens, und so hatte ich auch das von mir ungeliebte Vergnügen, mit der Familie am Sonntag per Fahrrad zum Torfstechen ins Moor zu fahren. Kinder konnten nämlich gut zum Ringeln gebraucht werden, eine idiotische Arbeit, bei der die Torfstücke zum Trocken in luftige Ringelhaufen gesetzt und spätestens alle vierzehn Tage umgesetzt werden mussten. Das Torfstechen selbst war Schwerarbeit, denn die nassen Torfstücke wurden mit einem großen Spaten von der Wand abgestochen und ausgehoben. Die oberen Schichten ergaben den hellen Weißtorf, der lockerer war und schneller wegbrannte als der Schwarztorf, der weiter untern saß und nasser und schwerer war. Auf einer sehr flachen Schiebkarre wurde der Torf an die freien Stellen gebracht, wo er zunächst zum Vortrocknen in große Reihen gesetzt und nach zwei oder drei Wochen uns Kindern zum Aufbau luftiger Ringe überlassen wurde, wobei die Ringe nach oben immer enger wurden und wir so auf Kindergröße Torf-Gewölbe errichteten. Nach mehrfachem Neuringeln war der Torf im Herbst trocken und wurde von einem Bauern mit Pferd und Wagen zu unserm Haus in der Kleinstadt gebracht.

Sie finden den Artikel spannend und möchten ihn gern weiterlesen?
Dann lohnt es sich, das ganze Heft zu kaufen.