Die Fischerin vom Tegernsee

| Text: Gabriele Metz |

Sie heißt Flora Engel und steht für ihre große Leidenschaft gerne in aller Herrgottsfrühe auf: Die Natur, Fische und deren Verarbeitung beflügeln die Hamburgerin, die als Auszubildende im dritten Lehrjahr in der Fischerei Tegernsee einen neuen Lieblingsort gefunden hat.

Der Wecker schrillt unerbittlich und reißt mich aus dem Tiefschlaf. Es ist 4 Uhr morgens. Eigentlich überhaupt nicht meine Zeit, doch heute gibt es einen reizvollen Grund, so früh aus den Federn zu springen. Ich habe einen Termin mit Flora Engel, der Fischerin vom Tegernsee. Schon sitze ich mit gepackter Kameratasche, Gummistiefeln und wasserfester Jacke im Auto und fahre durch die Dunkelheit. Schemenhaft zeichnet sich der Tegernsee, der im Ruf steht, der sauberste See Bayerns zu sein, gegen den Morgenhimmel ab. Alle anderthalb Jahre erneuert sich sein gesamtes Wasservolumen komplett – dank des eifrigen Zulaufs von Weißach und Rottach und der Ausmündung in Gmund. Von dem seit 1022 als Kurort anerkannten Bad Wiessee aus geht es, durch das gerade erwachende Örtchen Rottach-Egern hindurch, im Scheinwerferlicht direkt am Ufer entlang. Nun sind es nur noch wenige Kilometer bis nach Tegernsee, wo Flora auf mich wartet.

Schemenhaft ist das im Habsburger Gelb gehaltene Gebäude im Morgengrauen zu erkennen. „Fangfrische Fische vom Tegernsee – geräucherte Saiblinge“ steht auf dem Holzschild neben der Eingangstüre. Ich trete ein und genieße den verführerischen Duft, eine Mischung aus würzigem Rauch, mildem Fisch, Kräutern und Wein, der mir sogleich in die Nase steigt und an kulinarische Highlights des Vortags erinnert. „Guten Morgen, schön, dass du da bist! Wenn du magst, zieh doch einfach diese grüne Gummi-Fischerhose über. Dann können wir gleich los zum Einholen der Netze“, begrüßt mich Flora. Die gebürtige Hamburgerin sieht eigentlich gar nicht aus, wie ich mir eine Fischerin vorstelle, sondern eher wie ein Model. Blonde lange Haare, eine Top-Figur und gepflegte Hände. Dazu ein hinreißendes Lächeln. Doch die 22-Jährige, die sich aktuell im dritten Lehrjahr befindet, versteht jede Menge von der Fischerei, und sie kann zupacken – das steht spätestens nach den beiden gemeinsam verlebten Tagen außer Frage.

Jetzt geht es hinunter zum historischen Bootshaus, wo das kleine Fischerboot mit dem Außenbordmotor im Wasser liegt. Die Fischerei Tegernsee ist einziger Lizenzinhaber am 50 Kilometer südlich von München in den Bayerischen Alpen gelegenen See, in dem sich unter anderem Renken, Seeforellen, Seesaiblinge, Hechte, Barsche, Aale, Brachsen, Rotaugen, Lauben und Koppen tummeln. Ich klettere in das Boot, fühle mich pudelwohl in meiner Fischerhose, Flora wirft den Motor an, und wir fahren hinaus auf den Tegernsee, hinein in die atemberaubende Schönheit des malerischen Sonnenaufgangs. Es ist ganz schön frisch, der Morgennebel wabert auf dem Wasser, doch über den Gipfeln der Berge lugt bereits die Sonne hervor und wärmt uns mit ihren goldgelben Strahlen. „Ich habe gestern drei Kiemennetze ausgelegt. Dort ist eines davon“, sagt Flora und steuert auf eine lachsfarbene Styropor-Boje zu. Der Motor verstummt glucksend, und wir beugen uns erwartungsvoll über die Bordwand. Flora holt mit sicheren Griffen das Netz ein, und schon ist der erste Fisch zu sehen. „Eine Renke!“, freut sich die Norddeutsche, die nach dem Abitur nur einen Wunsch verspürte: als Fischerin zu leben und der Natur täglich ganz nahe zu sein. Schon taucht die nächste Renke auf und schließlich viele weitere. Flora nimmt jeden einzelnen Fisch vorsichtig aus dem Netz und sammelt sie in einem mit frischem Wasser gefüllten Eimer. In diesem Netz sind tatsächlich ausschließlich Renken. Die Fischerei Tegernsee sorgt schließlich auch für gesicherte Bestände. „Im Fischbruthaus in Bad Wiessee ziehen wir jährlich 1,5 Millionen Renken, 150 000 Seeforellen und 50 000 Saiblinge heran und setzen sie im See aus“, erzählt Flora, während sie das Netz ordentlich verstaut. Dann greift sie zum Stock und tötet die Renken waidgerecht mit einem gezielten Schlag auf das Nachhirn, das sich unter der Schädeldecke gleich hinter den Augen befindet. „Wenn der Augendrehreflex aussetzt, ist der Fisch tot“, versichert mir Flora, während sie die fangfrischen Renken in eine leuchtend rote Kiste mit Eis legt. Nun geht es weiter zum nächsten Netz, in dem wieder zahlreiche Renken, aber auch ein spezieller Gast auf uns wartet: eine Aalrutte. Der auch als Quappe oder Trüsche bekannte Fisch liebt kalte Gewässer und ist somit im bis zu 72 Meter tiefen, grünlich schimmernden Tegernsee genau richtig. Als einziger dorschartiger Fisch mit ausschließlichem Vorkommen in Süß- oder Brackwasser unterliegt die Aalrutte in vielen Bundesländern fischereilichen Schonbestimmungen. Interessiert lasse ich meine Finger über die Haut der Rutte gleiten. Es sind keine Schuppen zu spüren. Sie ist ganz glatt und seidig. Für Feinschmecker liegt das Schönste der Quappe jedoch in ihrem Inneren. „Die Leber der Rutte ist ausgesprochen groß und eine absolute Delikatesse, wenn man sie in der Pfanne anbrät“, verrät Flora.

Auf Delikatessen legt man ohnehin größten Wert in der Fischerei Tegernsee. Seien es Simpert Ernst, Christoph von Preysing und Thomas Bayer, die drei Chefs des Unternehmens, Geselle Korbinian Trettenhann oder die Auszubildenden Victor Henckel von Donnersmarck und natürlich Flora: Sie alle verstehen sich nicht nur auf die Fischerei, sondern auch auf die Veredelung des Fangs. Zum Beispiel das Räuchern, wofür der Fisch zuvor über Nacht in einem Kräuter-Gewürz-Sud geheimer Hausrezeptur zieht, bevor er bei 60 bis 80 Grad über Buchen- oder Erlenholz räuchert. Oder die Graved-Lachsforelle, für die die Fische direkt nach dem Fang filetiert und mit der schmackhaften Hausmischung gewürzt und gesalzen werden, bevor sie mehrere Tage lang beizen. Abschließend verbringen sie noch einige Stunden im kalten Holzrauch, bevor sie die anspruchsvolle Kundschaft genießen darf.

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