Die Greife der Nacht
| Text: Dr. Volker Pesch |
Menschen aller Zeiten und Regionen verehren und verklären sie: die Eulen. Keine anderen Tiere erscheinen auch nur annähernd so oft in Mythen und Sagen, keine sind derart tief in Aberglaube und Projektionen verwoben. Dabei sind die nachtaktiven Jäger zuerst und vor allem faszinierende Vögel, wie HALALI-Autor Dr. Volker Pesch beschreibt.
In England, so meldeten kürzlich die Agenturen, sind Schnee-Eulen knapp geworden. Stattdessen werden jetzt Schleiereulen genommen. Die Nachfrage hält unverändert an, immer noch geben Eltern dem Quengeln nach, denn auch weit mehr als ein Jahrzehnt nach Erscheinen des letzten Bands wünschen sich Kinder nichts mehr als eine Eule. Die Rede ist natürlich von Harry Potter, genauer gesagt von seiner Eule Hedwig, die dem Zauberschüler eine Freundin ist und außerdem die Post bringt.
Das tun Zaubereulen wohl häufiger, wie man liest, nicht nur in Joanne K. Rowlings Millionensellern. In den Verfilmungen mussten allerdings gleich mehrere dressierte Schnee-Eulen eingesetzt werden, so wissen einschlägige Fan-Foren zu berichten, weil keine allein sämtliche Tricks und Auftritte von Hedwig beherrschte. Und allesamt waren es Männchen: Die sind nicht nur kleiner und deswegen für die kindlichen Darsteller besser zu handhaben, sondern sehen auch wirklich so aus, wie Rowling die Eule beschrieben hat. Sie hat wohl nicht gewusst, dass ausgerechnet Schnee-Eulen einen Geschlechtsdimorphismus zeigen, anders als die meisten anderen Eulen. Nur die Männchen sind schneeweiß, die Weibchen haben auch dunkle Streifen oder Abzeichen im Gefieder.
So waren es eben männliche Hedwigs, die den regelrechten Ansturm auf die englischen Zoogeschäfte auslösten. Auf der Insel dürfen Eulen nämlich immer noch gezüchtet, dann käuflich erworben und privat gehalten werden. Zwar gelten die EU-Vogelschutzrichtlinie und die FFH-Richtlinie bis auf Weiteres nach dem Brexit weiter, und die stellen sämtliche Eulen unter strengen Schutz. Wilde Eulen dürfen weder gefangen, noch gehandelt oder privat gehalten werden. Aber von Zuchteulen ist da nicht die Rede. Aus Sicht des Tierschutzes ist das wahrlich keine gute Rechtslage, denn Eulen sind und bleiben Vögel, die in die freie Natur gehören (wie alle Vögel). Man kann die Ersatz-Hedwigs noch so sehr hätscheln und umsorgen, keine Form der Käfighaltung kann ihrer Art gerecht werden.
Anders als bei den Briten ist in Deutschland die Haltung von Eulen nur in seltenen Ausnahmefällen und mit behördlicher Erlaubnis möglich. Unter anderem werden die persönlichen und sachlichen Voraussetzungen geprüft, auch sind Kenntnisse in Haltung und Pflege nachzuweisen. Neben den Artenschutzbestimmungen gelten die „Mindestanforderungen an die Haltung von Greifvögeln und Eulen“ von 1995. Die Erlaubnis zur Haltung wird in der Regel nur erfahrenen Tierpflegern in anerkannten Auffangstationen und Falknern erteilt. Auch verletzt aufgefundene Eulen sind dort abzugeben. Für kleine Harrys und Hermines sind Schnee- und Schleiereulen also tabu.
Taxonomische Feinheiten
Außerhalb von Käfigen und Volieren findet man auf den Britischen Inseln keine Schnee-Eulen. Diese Art lebt im hohen Norden, in den arktischen Regionen, den Tundren und auf den Hochplateaus Nordeuropas, Sibiriens oder Alaskas. Aufgrund einzelner Populationen in Norwegen zählt sie dennoch zu den 18 Arten, die dem „Kosmos Vogelführer“ zufolge in Europa vorkommen. Andere Bestimmungs- und Handbücher zählen 17 Arten („Pareys Vogelbuch“) oder 13 („Welcher Vogel ist das?“ sowie „Die Vögel Mitteleuropas“) oder auch nur zehn („Greifvögel und Eulen“), jeweils nach dem konkreten Gebiet, das sie erfassen.
Weltweit gehören aber mehr als 200 Arten zu den Strigiformes, wie die Ordnung der Eulen lateinisch bezeichnet wird. Ihre Vertreter sind auf allen Kontinenten mit Ausnahme der Antarktis anzutreffen. Innerhalb dieser Ordnung unterscheidet die Fachwelt die beiden Familien der Schleier- und Maskeneulen (Tytonidae) und der Eigentlichen Eulen (Strigidae).
Die Tytonidae bilden dabei nur eine kleine Gruppe von in Größe und Aussehen recht einheitlichen Eulen, in Europa zählt dazu lediglich die namensgebende Schleiereule (Tyto alba). Das Gros aller Arten hingegen gehört zu den Strigidae, die wiederum in drei Unterfamilien aufgeteilt sind: die Unterfamilie der Leraglaucinae, der Surniinae und der Striginae. Letztere sind in Größe und Aussehen sehr variabel. Schwerste und größte Art ist der Uhu: Weibchen erreichen eine Länge von über 70 cm, eine Spannweite von bis zu 170 cm und ein Gewicht von über 4 kg. Die kleinste ist der spatzengroße Mexikanische Elfenkauz, der wiegt nur rund 40 g. Die kleinste hierzulande heimische Art ist der Sperlingskauz, mit einer Länge von bis zu 19 cm ist das Weibchen nicht viel größer als ein Star.
Die Einteilung ist in der Literatur nicht einheitlich: Manchmal werden die Surniinae auch den Striginae zugeordnet, bilden demnach also keine eigenständige Unterfamilie. Aber solcherart taxonomische Feinheiten sind ohnehin Sache der Ornithologen und hier nicht von Belang. Ganz unlateinisch sind sich alle darin einig, dass in Deutschland nur acht Eulenarten regelmäßig als Brutvögel vorkommen, nämlich Uhu, Steinkauz, Waldohreule, Raufußkauz, Schleiereule, Sperlingskauz, Waldkauz und Sumpfohreule.
Übrigens wurden Eulen früher oft zu den Greifvögeln gezählt, wohl aufgrund des ähnlichen Jagdverhaltens. Daher rührt auch die alte Bezeichnung „Nachtgreife“. Die findet man heute in der Wissenschaft nicht mehr, wohl aber in der schöngeistigen Literatur. Eulen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von den Greifvögeln, sowohl anatomisch als auch hinsichtlich der Lebensweise. Und neuere Genomanalysen belegen, dass die Eulen zwar den Habichtartigen (Accitripiformes) nahestehen, nicht aber den Falkenartigen (Falconiformes). Näher verwandt sind sie unter anderem mit den Rackenvögeln (Coraciiformes), also mit Wiedehopfen, Eisvögeln und Spechten. Die evolutionäre Herausbildung der Eulen als eigene Ordnung liegt aber lange zurück: Die ältesten Fossilienfunde, die eindeutig als Eulen klassifiziert werden können, sind rund 24 Millionen Jahre alt.