Die Hoffnung stirbt zuletzt
| Text: Simon K. Barr |
Die Rentierjagd auf Island ist eine wahre Herausforderung. Kondition, Ausdauer und Geduld sind dabei unabdingbar. Der natürliche Lebensraum der Rentiere Islands sind die schroffen und abgeschiedenen Gebirgszüge im Osten der Insel, im Winter ziehen die Tiere auf der Suche nach Nahrung auch hinunter in die Fjorde und breiten Flusstäler. Oft behindert auf Island Nebel die Sicht, und das Aufspüren des Wildes gestaltet sich schwierig. HALALI-Autor Simon K. Barr reiste nach Norden auf der Suche nach den größten Landsäugetieren auf Islands Lavafeldern.
Als sich meine Lungen zum ersten Mal mit der frischen isländischen Luft füllten, wusste ich, ich würde die karge Schönheit der Vulkan- und Gletscherlandschaft lieben lernen. Schon die ersten Blicke auf dieses wunderbare Land verrieten mir, warum die Insel den Beinamen „Land aus Feuer und Eis“ trägt. Die riesigen Lavafelder, nur unterbrochen von zerklüfteten Bergen und versteckten Tälern, erstrecken sich dort so weit, wie das Auge reicht. Für mich war es die erste Reise nach
Island, und unser Jagdteam war nun bereits über zwei Tage unterwegs in dieser wunderschönen, aber schroffen Natur. Viele zermürbende Stunden, in denen wir diese unerbittliche Landschaft durchkämmt haben – bislang ohne jeglichen Anblick. Es ging auf Rentiere, die, das lernte ich erst dort, schwer zu finden sind. Aber wie jeder erfahrene Jäger weiß, sind Geduld und Ausdauer die Eckpfeiler jeden Jagderfolgs. Unsere kleine Jagdgruppe bestand aus mir, meinem Jagdkollegen Mark, unserem erfahrenen Führer Oli und zwei Freunden, die das Abenteuer mit uns teilen wollten: Rabbi, ein örtlicher Agent für das Lachsfischen am berühmt-berüchtigten Fluss Miðfjarðará, und Neil, ein weiterer Brite. Wir durchquerten das unwegsame, raue Gelände mit drei sechsrädrigen Can-Am ATVs, unseren treuen Gefährten für diese Jagd. Diese im höchsten Maße geländetauglichen Fahrzeuge ermöglichten es uns, auf der Suche nach den schwer auszumachenden Rentierherden, die in diesem Land zu Hause sind, weite Strecken zurückzulegen. Um auf Island eine Jagderlaubnis für die Rentierjagd zu erhalten, muss man an einer Art Lotterie teilnehmen. Sowohl einheimische als auch internationale Jäger müssen ihre Anträge vor einem bestimmten Stichtag im Februar einreichen, um an der Verlosung eines der begehrten Hunting Permits teilzunehmen.
Die isländische Umweltbehörde verwaltet dieses Verfahren und vergibt eine begrenzte Anzahl von Genehmigungen auf der Grundlage wissenschaftlicher Beurteilungen des Rentierbestands. Für die Saison 2024 wurde die Gesamtquote auf 800 Rentier festgelegt, zusammengesetzt aus 397 weiblichen und 403 männlichen Stücken. Aufgrund einer begrenzten Datenlage aus dem Vorjahr war das deutlich weniger als in den Jahren zuvor. Zudem geht der Großteil der Permits natürlich an einheimische Jäger. Die erfolgreichen Bewerber werden kurz nach der Auslosung benachrichtigt, damit sie ihre Jagd für die kommende Saison planen können, die in der Regel vom 15. Juli bis zum 15. September für Bullen und vom 1. August bis zum 20. September für Kühe dauert. Das Lotteriesystem gewährleistet eine gerechte Verteilung der Jagdmöglichkeiten und gleichzeitig eine nachhaltige Bewirtschaftung der einzigartigen isländischen Rentierpopulation. Gejagt wird in Begleitung eines lizenzierten örtlichen Jagdführers, der sicherstellt, dass die Jäger die Gebietsgrenzen und die zuvor festgelegten Bedingungen für ihren Permit einhalten.
Rentiere sind in Island ursprünglich nicht heimisch, sondern wurden Ende des 18. Jahrhunderts von Siedlern aus Norwegen und Lappland eingeführt. Der Geschichte zufolge sollen sie ein Geschenk des norwegischen Königs gewesen sein, um die Bevölkerung in der rauen Landschaft mit Proteinen zu versorgen. In dieser schwierigen Zeit hatte Island mit Hungersnöten und Naturkatastrophen zu kämpfen. Ursprünglich sollten die Rentiere, wie in ganz Skandinavien üblich, gezüchtet werden; doch die Isländer übernahmen diese Praxis nicht, sodass die Tiere schließlich verwilderten. Da Rentiere auf Island keine natürlichen Feinde haben, explodierte bis 1817 die Rentierpopulation nahezu, was zu einer übermäßigen Beweidung führte. Infolgedessen wurden Rentiere in großem Umfang bejagt und schließlich beinahe ausgerottet, bis dann Mitte des 20. Jahrhunderts Jagdgesetze erlassen wurden. Heute gibt es in Island etwa 3 000 wild lebende Rentiere, die alle von den ursprünglich eingeführten Tieren abstammen. Während sich die Sonne langsam dem Horizont näherte und immer längere Schatten auf die Vulkanlandschaft warf, entdeckte Oli etwas in der Ferne. Nur ein kleiner Strich am Horizont, für das ungeübte Auge kaum zu erkennen, aber für unseren erfahre-nen Jagdführer unverwechselbar. „Rentiere!“, verkündete er, wobei ein Hauch von Aufregung aus seiner Stimme herauszuhören war. „Eine große Herde, vielleicht 50 oder 60 Stück!“
Diese Nachricht ließ uns aufatmen. Nach mehr als zwei Tagen erfolgloser Suche hatten wir endlich Wild gefunden! Doch die eigentliche Herausforderung begann damit erst. Die Herde befand sich gut 5 km entfernt und durchquerte eines der tückischsten Terrains, das ich jemals zu Gesicht bekommen hatte.
Wir bestiegen unsere ATVs und machten uns auf den Weg, der es tatsächlich in sich haben sollte. Die Lavafelder, die wir durchqueren mussten, waren anders als alles, was ich bisher erlebt hatte. Zackige Felsen ragten aus jedem Winkel hervor und drohten mit jedem Meter den Unterboden unserer Fahrzeuge zu zerstören. Die ATVs stöhnten und ächzten, als wir durch diese mondähnliche Landschaft fuhren, und ihre Federungen wurden beim Abfangen der ständigen Stöße bis an die Grenzen belastet. Etwa auf halber Strecke, an einem hohen Aussichtspunkt, geschah dann das Unvermeidliche. Das raue Gelände forderte sein erstes Opfer: einen unserer ATVs. Ein besonders markanter Felsbrocken hatte das Getriebe des
Gefährts unserer Begleiter Rabbi und Neil samt Fahrwerk so schwer beschädigt, dass es fahruntauglich liegen blieb. Das war uns eine deutliche Er-innerung an die Herausforderungen, denen wir in dieser unbarmherzigen und brutalen Wildnis gegenüberstanden. Aus diesem Grund übrigens sollte man hier auf Island auch stets in zwei Teams jagen.
Nachdem wir für Rabbi und Neil einen sicheren Platz gefunden und Pläne für ihre spätere Bergung geschmiedet hatten, fuhren Mark, Oli und ich weiter. Schließlich erreichten wir einen Punkt, an dem wir die restlichen ATVs zurücklassen mussten und unsere Pirsch zu Fuß fortsetzten. Das für die Jahreszeit ungewöhnlich warme Wetter veranlasste uns, ein paar Kleidungsstücke abzulegen, bevor wir uns vorsichtig dem Wild zu nähern begannen. Jedes bisschen Deckung mussten wir nutzen, um vom Wild unbemerkt an die Herde heranzukommen. Je näher wir ihr kamen, desto deutlicher wurde das Ausmaß der Herde. Vor uns befanden sich tatsächlich 50 bis 60 Rentiere, die friedlich in dem kleinen Tal ästen. Oli machte schnell ein passendes Stück für den Abschuss aus – einen braven Bullen mit einer beeindruckenden Trophäe, die an der Vorderseite eine bemerkenswerte schaufelartige Formation aufwies „Das ist er!“, flüsterte Oli, dessen Augen vor Aufregung funkelten. „Ein starker Bulle, perfekt für dein Permit. Ein großartiges Exemplar seiner Art!“ Mein Herz raste, während ich den Anblick dieses majestätischen Wildtieres auf mich wirken ließ. Aber die eigentliche Herausforderung lag noch vor uns. Die Herde stand eng zusammen und war in ständiger Bewegung. Der starke Bulle wurde häufig von anderen Stücken verdeckt, was einen sauberen Schuss fast unmöglich machte. Wir wendeten alle erdenklichen Tricks an, um die Distanz zu verringern, indem wir die Windrichtung ausnutzten und uns flach auf dem Boden kriechend auf die Herde zubewegten, ähnlich wie bei der Rothirschjagd in den schottischen Highlands. Es waren nervenaufreibende Minuten, da wir wussten, dass die Herde jeden Moment aufschrecken und in den Weiten der isländischen Wildnis verschwinden könnte. Schließlich erreichten wir eine Position, in der ein sicherer Schuss möglich war.
Wir richteten uns ein, so gut es ging. Ich maß die Entfernung zum Bullen mit 283 m – ein schwieriger Schuss unter diesen Umständen, aber ganz besonders aufgrund der Tatsache, dass die Herde weiterhin ständig in Bewegung war. Mein Entfernungsmesser zeigte mir die ballistischen Korrekturdaten, die ich auf den Vertikalturm meines Zielfernrohrs übertrug. Ich stellte das Zweibein auf, ging hinter meinem Gewehr in Position und bereitete mich auf den Schuss vor. Aber der Bulle hatte andere Pläne, als einfach nur breit dazustehen. Er bewegte sich um 90° weg von seiner ursprünglichen Position und zwang mich damit, meine gesamte Ausrüstung neu zu positionieren. Das ganze Hin und Her dauerte eine gefühlte Ewigkeit: den Bullen wiederfinden, ihn in der Herde wieder verlieren, neu positionieren, messen und erneut von vorn beginnen. Mein Daumen schmerzte, weil ich stundenlang mit ihm auf dem ATV Gas gegeben hatte, was das Ganze jetzt noch unangenehmer machte, als ich den Pistolengriff des Gewehrs umfasste. Ich begann trotz einer bereits abgelegten Kleidungsschicht zu schwitzen, aber ich wagte es nicht, mich auch nur einen Hauch zu bewegen. Endlich, nach einer Zeit, die mir wie Stunden vorkam, aber wahrscheinlich tatsächlich nur Minuten andauerte, bot sich mir die Gelegenheit zum Schuss. Der Bulle schob sich an zwei Kühen vorbei und entfernte sich für den Bruchteil einer Sekunde weg von der Herde, sodass sich eine gute Schussmöglichkeit ergab. Zeit, um zu reagieren. Ich holte tief Luft, setzte das Fadenkreuz direkt hinter die Schulter des Bullen und drückte ab. Das Pulver der 6,5-Creedmoor-Patrone brannte ab und schickte das 129-gr-SST-Geschoss auf seinen Weg.