Die Suche nach den letzten Jägern – Eine persönliche Pirsch auf vergessenen Pfaden

| Text: Jonas Nørregaard |

Angetrieben von Abenteuerlust und dem brennenden Wunsch, die einheimischen San-Jäger, die noch in der Natur leben und über Kenntnisse und Fertigkeiten in Bezug auf Wild und Jagd verfügen, die wir in unseren Breitengraden längst vergessen haben, kennenzulernen, begab ich mich auf ein Abenteuer in den abgelegenen Regionen im Nordwesten Botswanas und im Osten Namibias.

Als ich noch ein Kind war, hing im Haus von Freunden meiner Eltern ein Gemälde aus dem 16. Jahrhundert über der Treppe. Es zeigte einen „Wilden Mann“. Er war beinah nackt und trug nur einen Lendenschurz. In der Hand hielt er etwas, das wie ein hölzerner Dolch aussah, und auf seinem Rücken trug er mehrere tödlich scharf aussehende Speere. Der Mann war nahezu schwarz und durchtrainiert. Er stand am Meeresstrand neben einer Palme, im Sand zu seinen Füßen lagen kleine Muscheln und das Horn eines großen Tieres. Wenn ich beim Spielen die Treppe rauf- und runterrannte, konnte ich nicht anders und musste jedes Mal vor diesem Gemälde stehen bleiben, um es anzusehen. Für mich war
es ein Fenster in eine Welt, die ich nicht kannte, die Furcht einflößend fremd und gleichzeitig unendlich faszinierend schien. Das Bild fachte einen Funken an, der mit der Zeit ein großes Feuer der Abenteuerlust in mir entzündete. Viele Jahre später traf ich auf einer Jagd im südlichen Botswana auf einen Mann, der mir von einer Begegnung mit Buschmännern in der Kalahari an der Grenze zu Namibia erzählte. Wir unterhielten uns eigentlich über etwas völlig anderes, aber Fragmente des Gesprächs blieben mir im Gedächtnis haften: wie die Buschmänner heute noch mit Giftpfeilen jagen – so, wie sie es seit Urzeiten getan haben.

Und so begann ich eine Reise zu planen, deren Ziel mir noch völlig unbekannt war und deren Zweck ich nicht genauer fassen konnte, als die Erfahrung zu machen, wie Naturvölker in Wirklichkeit jagen und Fallen stellen. Mir war völlig klar, wie unsicher es war, dass ich das, was ich mir erträumte, auch erleben würde. Ich machte mich auf die Suche nach etwas, wovon ich nicht wusste, ob es überhaupt noch existiert, und bereitete mich innerlich auf die Möglichkeit einer Expedition ohne Ergebnis vor.

Weißer Sand. Roter Sand.

Anfang April landete ich im nördlichsten Zipfel von Botswana, und als ich die Maschine verließ, traf mich die Hitze wie ein Schlag. Ich mietete mir ein Auto und begann, mich mit Vorräten und Ausrüstung für einen Monat im Busch einzudecken.  Die Kompassnadel wies nach Nordosten, als ich aufbrach. Der Mann, der mir damals über seine Begegnung mit den Buschmännern – von nun an werde ich dieses Volk bei seinem eigenen und weniger abwertenden Namen San nennen – erzählte, dieser Mann hatte mich eingeladen, ihn auf seiner Farm zu besuchen, die auf einem Stück Land lag, das er und seine Familie der Regierung von Botswana abgekauft hatten.  Ich war den ganzen Tag auf unmöglichen Sandpisten unterwegs, auf der sich Schlaglöcher, schlafende Esel und Ziegen abwechselten. Nach acht Stunden änderte sich die Farbe des Wegs von Weiß zu Rot. Hier, so hatte man mir gesagt, solle ich links abbiegen und dann den Reifenspuren folgen, bis ich bei der Farm ankäme. Die Spuren, die mehr ahn- als sichtbar waren, zogen sich ewig dahin. Mehr als einmal musste ich mit dem Auto durchs Gestrüpp fahren, und die harten Äste der Büsche kratzten kreischend an den Türen des Autos entlang. Irgendwann öffnete sich der Busch und gab den Blick frei auf die „Farm“. Eine kleine Familie, die drei Generationen überspannte, hatte all ihren Besitz verkauft, hatte Südafrika den Rücken gekehrt und lebte nun hier als Pioniere, so weit weg im Nirgendwo, wie man es sich nur vorstellen kann.

Pioniere

Ich verbrachte einige Tage bei dieser freundlichen Familie, die mich so herzlich aufgenommen hatte. Es war beinah eine historische Studie – ich kam dem Leben der ersten europäischen Auswanderer nach Amerika denkbar nahe: kein TV, keine Waschmaschine, keine anderen Annehmlichkeiten der Moderne. Dafür 40 Rinder und ebenso viele Ziegen. Jeden Morgen mussten die Kühe gemolken werden, die Milch wurde abgesahnt, daraus wurde Butter und aus der Milch Käse für den Eigenbedarf gemacht. Freitags wurde eine Ziege geschlachtet, deren Fleisch die Woche über reichen musste. Ein einfaches und in vielerlei Hinsicht gutes Leben. In der Nähe der Farm standen zwei kleine, einfache Hütten, in denen zwei junge San lebten, die sich um die Kühe und Ziegen auf der Farm kümmerten. Mit diesen beiden Jungen, Kram und Tui, begann meine Jagd. Ich verbrachte Zeit mit den beiden, damit wir einander etwas kennenlernen konnten. Tui konnte ein wenig Englisch, Kram und er unterhielten sich in ihrem eigenen Khoisan-Dialekt, einer faszinierenden Sprache aus gutturalen Worten und Klicklauten. Außerdem gab es noch Tuis Bruder, der 30 bis 40 km weiter weg lebte und ebenfalls ein bisschen Englisch sprach. Und so verbrachte ich noch einen Tag mit der Familie, der die Farm gehörte, im Okavango, wo wir Tigerfische angelten. Dann verabschiedete ich mich und begann mein wirkliches Abenteuer: die Suche nach dem wirklichen Zweck dieser Reise.

Jäger trifft Jäger

Die Sonne stand schon tief am Horizont, als ich nach einer langen Tagesreise an einem späten Nachmittag auf engen Wagenspuren an einigen kleinen Hütten aus Lehm und Stroh anlangte. Vor einer der Hütten saß eine Familie um einen eisernen Topf, der in der Glut des Feuers stand. Ich stellte mein Auto etwas abseits ab und ging zu ihnen hi-nüber. Ich grüßte höflich, zuerst den ältesten Mann der Gruppe, dann die anderen. Keiner von ihnen sprach oder verstand ein Wort Englisch. So kam ich mir reichlich unbeholfen vor, aber ich lächelte und versuchte es mit Gestensprache: was im Topf sei, wie ich heiße und so weiter. Glücklicherweise kam nach kurzer Zeit ein junger Mann aus dem Busch: Tuis Bruder Doma, der Englisch sprach. Die Situation wurde sofort deutlich einfacher, als ich dank meines Übersetzers erklären konnte, warum ich durch den Busch in dieses Dorf gekommen war. Der Älteste der Familie, der übrigens auch Tui hieß, lächelte, als ich ihm ein Schwarz-Weiß-Foto zeigte, das mich mit einem Hirsch zeigte, den ich mit meinem Jagdbogen erlegt hatte. Es war eine Art Jäger-zu-Jäger-Verbindung, die da entstand. Trotz aller Distanz und all der Unterschiede in Technik und Kultur:
Wir waren beide Jäger, er und ich. Alles andere war nebensächlich. Tui der Ältere holte seinen eigenen Bogen, und ich fragte neugierig nach den Pfeilen, den Pfeilspitzen, dem Sehnenmaterial, der weiteren Ausrüstung. Dann fragte er, wo mein eigener Bogen sei. Mir war klar, das er mich für reichlich dumm hielt, den Bogen nicht mitgebracht zu haben. Für ihn sah mein moderner Compoundbogen auf dem Foto viel besser aus als seiner, der in Wirklichkeit um so vieles schöner war. Ich erklärte ihm, dass ich um den halben Erdball gereist sei, um zu lernen und zu erleben, wie er und seine Freunde jagen. Tui schien geschmeichelt von meiner Neugier und meinem Respekt vor dem, wofür er stand. Er erlaubte mir, mein Zelt neben den Hütten seiner Familie aufzuschlagen. Dann holte Tui Holz und zündete für mich ein Feuer an als Geste des Willkommens. Ich blieb für die nächsten Tage und unterhielt mich mit Tuis Familie und mit den Familien, die wir auf kurzen Ausflügen in den Busch trafen. Man kann nicht wirklich von einer Dorfsituation sprechen, eher waren es mehrere Hüttengruppen, die im Busch verteilt waren, und in jeder lebte eine Mehrgenerationenfamilie. Was alle hatten, waren jeweils ein oder mehrere Töpfe aus Eisen, Emaille-Becher, ein paar Plastikkanister für Wasser, einige Decken – das war alles.

Kudufährten in der Salzwüste

Wann immer ich Jagdausrüstung oder Fallenmaterial zu Gesicht bekam, war ich hochinteressiert daran. Eines Tages fragte mich der alte Tui, ob ich am Abend mit auf die Jagd kommen wollte. Ich konnte meine Freude darüber nicht verbergen. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich mit ihm und langen Gesprächen über vergangene Jagden und die zugehörigen Gerätschaften. Er spielte mir einzelne besonders aufregende Jagdszenen theatralisch vor oder zeichnete mit einem Stock im Sand, um mir besondere Details zu erläutern. Als das letzte Licht der untergehenden Sonne aus dem Himmel gewichen war, tauchten wir in den Busch und die Dunkelheit ein. Tui und Doma waren mit kurzen Speeren ausgerüstet, die eiserne Spitzen hatten. Außerdem hatten sie alte, nicht besonders helle Taschenlampen dabei. Ich hatte keine Ahnung, worauf wir jagten, und langsam dämmerte mir, dass die beiden das ebenso wenig wussten wie ich. Wir jagten auf alles, was kommen würde. Wir pirschten leise durch den Busch, Tui voraus, dann Doma, ich dahinter. Die beiden suchten mit den Augen den Boden nach Fährten ab, gebückt gehend, die Finger auf den Boden gerichtet, leise Worte in ihrer unverständlichen Sprache vor sich hinmurmelnd. Dann kamen wir an eine ausgetrocknete Salzlache. Die weißen Kristalle glitzerten wie Eis im Licht der Taschenlampen. Flüsternd erklärte mir Tui, dass das Wild hierherkäme, um seinen Salzbedarf zu decken. Dann hielt er mit einem Mal an: Frische Fährten eines jungen Kudu standen im Boden, der hier kurz zuvor durchgezogen sein musste. Ein paar geflüsterte Worte, angespannte Konzentration, dann stand der Plan: Wir folgten dem Kudu. Das Salz knirschte unter unseren Füßen.

Langsam krochen wir weiter. Wir mussten nahe dran sein. Wie die beiden es geahnt hatten, weiß ich nicht. Tui, der immer noch vorausging, hielt an und zog einen Pfeil aus dem Köcher, der wie eine Art Ledersack auf seinem Rücken hing. Er legte den Pfeil auf die Sehne und machte sich bereit. Lautlos pirschten wir noch einige Schritte weiter. Der Lichtkegel der Taschenlampe wanderte über trockenes Laub am Boden. Dann machte Tui plötzlich halt. „Jetzt!“, dachte ich. Dann brachte mich ein lautes Geräusch auf völlig andere Gedanken. Ein Brechen, ein Krachen: Das war definitiv kein Kudu! Ein Baum stürzte um, in unmittelbarer Nähe. Die beiden San-Jäger wichen zurück, ich tat es ihnen gleich. Sie waren offensichtlich erschrocken. Doma flüsterte: „Wütende Elefanten!“ Dann zerriss lautes Trompeten die Nacht, und der Atem der Dickhäuter war zu hören. Wir machten uns davon, das hier fühlte sich nach Gefahr an, und dieses Gefühl trog wahrscheinlich nicht. Weg, schnell weg. Wir rannten los, die Jagd war vergessen. Nach einer halben Stunde sahen wir die Feuer vor einigen Hütten, nach einer weiteren Stunde waren wir in unserem eigenen Camp. Jetzt endlich erleichtertes Lachen, eine Pfeife mit gutem Tabak, eine Tasse Zucker mit ein wenig Tee darin. Das Letzte, was Tui mir sagte, als er mir gute Nacht wünschte, war, dass wir morgen wieder losziehen würden.

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