Ein greiser Einsiedler im Aufwind
| Text: Sarah Wirtz |
Ein Vogel von eigenwilliger Schönheit, so könnte man den Waldrapp wohlwollend bezeichnen. Außergewöhnlich ist insbesondere der kahle, rot-schwarz gefärbte Kopf, umrahmt von einer metallisch schillernden Federboa, versehen mit einem schlanken, lang gekrümmten roten Schnabel.
Diesem ungewöhnlichen Erscheinungsbild trägt auch der lateinische Name Rechnung: Geronticus eremita, der „greise Einsiedler“. Als Zugvogel ist der Waldrapp in Europa seit dem Ende des 17. Jahrhunderts ausgestorben. Die Gründe dafür waren vielfältig. So stand der Waldrapp unter starkem Jagddruck – sein zartes Fleisch galt als Delikatesse. Im Laufe der Zeit setzten ihm zusätzlich der Verlust geeigneter Brutplätze sowie das Plündern noch bestehender Nester stark zu. Besonders im Nahen Osten führten der Einsatz von Pestiziden und der für den Waldrapp damit einhergehende Nahrungsmangel Ende der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts zum Erlöschen der dortigen Population.
Heute existiert nur noch eine einzige wilde Kolonie im Sous-Massa-Nationalpark an der Küste Marokkos. Deren positiven Entwicklung ist es zu verdanken, dass der Waldrapp nach 24 Jahren, im August 2018, innerhalb der internationalen Roten Liste (IUCN Red List) von „vom Aussterben bedroht“ zu „stark gefährdet“ herabgestuft werden konnte. Zudem befindet sich noch eine halbwilde, auf menschliche Unterstützung angewiesene Kolonie in Birecik, im Südosten der Türkei. Auch wenn es der Waldrapp in Freiheit noch immer schwer hat, konnte die Art glücklicherweise in vielen europäischen Zoos erhalten bleiben und dies sogar mit beachtlichem Erfolg. Die gesamte europäische Zookolonie umfasst heute ca. 2 000 Individuen. Beste Voraussetzungen, um die Art wieder in ihr ehemaliges Verbreitungsgebiet zurückzubringen – das langfristige Ziel aller Erhaltungszuchtprogramme.
LIFE+ Projekt „Reason for Hope“
Seit mehr als 16 Jahren beschäftigt sich das Waldrappteam mit dieser charismatischen Vogelart, seit 2014 sogar im Rahmen eines LIFE+ Programms der EU (EU-Finanzierungsprogramm für die Bereiche Biodiversität, Umwelt- und Klimaschutz). Das Projekt „Reason for Hope – Wiederansiedlung des Waldrapps in Europa“ hat die konkrete Zielsetzung, den Waldrapp wieder als Zugvogel in dessen ehemaligem mitteleuropäischem Verbreitungsgebiet anzusiedeln. Das Wiederansiedlungsprojekt stützt sich auf die Entwicklung innovativer Natur- und Artenschutzmethoden – unter anderem die menschengeführte Migration, das umfassende raumzeitliche Monitoring auf der Basis von GPS-Daten sowie ein veterinärmedizinisches und genetisches Monitoring. Neben diesen klassisch wildbiologischen Themen bilden auch umfangreiche Maßnahmen gegen illegale Vogeljagd in Italien einen wichtigen Baustein im Hinblick auf das Gelingen dieses Projekts.
Mehr als zwölf Jahre Vorarbeit waren nötig, um eine Wiederansiedlungsmethode zu finden und zu optimieren, die dem Waldrapp gerecht wird. Nicht zuletzt, weil die Vögel zwar eine Zugdisposition besitzen, jedoch nicht über ein angeborenes Wissen um die geografische Lage ihres Überwinterungsgebiets verfügen. Diese Information wird von Generation zu Generation als Zugtradition weitergegeben. Genau an diesem Punkt setzt das LIFE+ Projekt an: Auf menschliche Zieheltern geprägte Jungvögel aus Zoohaltung werden in einem geeigneten Brutgebiet (z. B. Burggelände in Burghausen, Bayern) aufgezogen und von dort mit Ultraleichtflugzeugen in das Wintergebiet in der Toskana geführt. Seit 2011 kehren Gründerindividuen, d. h. solche, die sich den Weg nach einem einmaligen, begleiteten Flug eingeprägt haben, selbstständig in ihr Brutgebiet zurück. Kurzum, seit nunmehr acht Jahren migrieren wieder Waldrappe zwischen Bayern bzw. Österreich und der Toskana. Eskortiert von den menschlichen Zieheltern, folgen die Jungvögel ihren tierischen Familienmitgliedern in das gemeinsame Wintergebiet. So wird die neue Zugtradition an die kommenden Generationen weitergegeben.