Ein Revier en miniature
| Text: Dr. Wolfgang Fleck |
Die Lockdowns waren eine Zeit der herben Einschnitte. Die vier Wände, in die man sonst so gerne zurückkehrt, wurden im Homeoffice zum veritablen Gefängnis. Doch die Zeit brachte auch Erlebnisse, die vorher kaum möglich gewesen wären. Das Wohnzimmer wurde plötzlich zum Revier neuer Mitbewohner.
Im Winter des letzten Jahres, als Deutschland noch nichts ahnte von den bevorstehenden Einschränkungen, als das Leben noch seinen gewohnten Gang nahm, tummelten sich einige Eichhörnchen auf unserer Terrasse. Ziemlich vorsichtig waren sie und hielten immer scheuen Abstand, auch wenn sie sich von den Nüsschen, die für sie dort bereitlagen, recht gerne bedienten. Doch sie blickten nur durch das Glas der Terrassentüren zu uns herein, mit großen Augen – und wir blickten durch Glas auf sie zurück. Man kannte sich, doch man hielt Abstand.
Überraschte Blicke
Der Lockdown kam auch für die Tiere überraschend. Denn plötzlich war Leben im Haus, nun den ganzen Vormittag lang. Vater und Sohn mussten ihre (Haus-)Aufgaben neuerdings online erledigen und saßen zusammen da, büffelten Latein und Mathematik. Laudo, laudas, laudat. Infinitiv Präsens, Infinitiv Perfekt? Laudare, laudavisse. Wofür relevant? Consecutio temporum. Wenn 21 Bonbons 2,10 Euro kosten, wie viel kosten dann 11 Bonbons? Das war das Programm der häuslichen Schultage: Stammformen und Dreisatz, AcI, Subjekte, Objekte und Prädikate. Oft hörte man auch Seufzer der Unlust und den wiederkehrenden Ruf: „Pause bitte!“
Von draußen sah man zu und staunte vermutlich. Was die großen Zweibeiner ohne Fell da wohl trieben? Wir öffneten vorsichtig die Tür, um nach den kleinen Zaungästen zu sehen, doch die stoben davon. Schade, das war zu voreilig. Geduld war gefragt, die große Tugend des Jägers. Ruhe, keine unnötigen Bewegungen, keine lauten Gespräche. Dann würden sie hoffentlich wiederkommen. Und siehe da: Sie pirschten bald wieder heran, immer im Zickzackkurs, schnappten sich Nüsschen, gingen auf Distanz, hoch hinauf aufs Geländer, wo sie sich sicher fühlten. Dann kamen sie wieder tastend zurück und ergatterten neue Beute. Eine Nuss wurde hier und da vergraben, in all den Blumentrögen; Erde wurde aufgeworfen, dann wurde weitergeknuspert.
Charakterstudien
Die beiden Hörnchen – zwei hatten wir sicher identifiziert – zeigten recht feste Gewohnheiten. Vormittags kamen sie, in den frühen Morgenstunden, hin und wieder auch am Nachmittag, am Abend indes nie. Auch ihr Verhalten verriet viel über sie. Das eine war hektisch und scheu, immer auf Sicherheit und Abstand bedacht, doch teils recht frech, wenn es ums Beutemachen ging. Das andere war behäbiger, gelassener und ruhiger. Auch die Vorlieben der beiden waren schnell klar: Geschälte Walnüsse waren ihre Favoriten.
Die Tür zur Terrasse stand nun öfter einladend offen. Doch würden die Tiere über die Schwelle kommen? Als das Jahr wärmer zu werden begann, legte meine Frau Nüsse auf der Türschwelle aus wie an einer Kirrung und begab sich mit Kamera und Teleobjektiv in Lauerstellung. Ich staunte. Meine der Jagd gänzlich abholde Gattin mochte erstmals die Reize eines Ansitzes erleben, freilich in sehr sublimer Form. Die Hörnchen ließen sich tatsächlich von ihr anlocken, kamen aber noch nicht herein.
Verlockungen der Düfte
Das Corona-Jahr schritt fort, Langeweile und Verdruss wurden immer öfter spürbar, doch es gab auch schöne Momente. Durch die offenen Terrassentüren wehten erste Ahnungen des Herbstes herein, und unsere kleinen Zaungäste waren Stammkunden an der Nüsschen-Theke geworden. Wir gingen einen Schritt weiter: Die Theke wurde kurzerhand ins Wohnzimmer verlegt. Würden sie kommen und sich über die Türschwelle trauen?
Sie kamen, tanzten auf der Terrasse herum, dann äugten und schnupperten sie vorsichtig zu uns herein. Plötzlich waren sie auf der Schwelle, dann unvermittelt im Zimmer und huschten der Duftspur hinterher, immer tastend, im Zickzackkurs. Erdnüsse, Haselnüsschen und halbierte Walnüsse wurden erschnuppert, gesichert und gefressen, in einem Tempo, das sich gewaschen hatte. Die Schale wurde förmlich zermahlen und zerging wie Schleifstaub. Die Hörnchen zeigten nun Zeichen der Vertrautheit. Ihr Schwanz ging immer öfter nach unten und ruhte, der Körper entspannte sich. Die großen Zweibeiner waren ja zu Salzsäulen erstarrt und saßen gebannt auf den Stühlen oder lagen am Boden und sahen ihnen zu. Da konnte man sich schon herantrauen und sogar ganz vorsichtig eine Nuss aus der Hand nehmen.