Ein Schloss in Thüringen
| Text: Dr. Wolfgang Fleck |
In Thüringen, im Saalegebiet, in der kleinen Gemeinde Kaulsdorf liegt Schloss Eichicht. Dr. Catharina und Max Buchholz haben das Anwesen 2015 erworben und es aufwendig restaurieren lassen. Das Schloss ist das Zuhause einer Jagdschule, einer Wildmetzgerei und eines Hofladens geworden – es ist Kulturdenkmal und ein Ort für besondere Anlässe.
Thüringen hat seinen ganz eigenen Charakter: Seine Städte atmen den Geist der deutschen Geschichte; man denke nur an Weimar, Erfurt, Saalfeld und Rudolstadt. Seine Landschaft ist komponiert aus waldreichen Höhen, engen Tälern, schmucken Dörfern. Thüringens Winter können hart, schneereich und eisig sein, doch seine Sommer sind von grün-blauer Üppigkeit. Hin und wieder bezwingt noch eine Dampflok fauchend und pfeifend die Steilstrecke zum Rennsteig, jenem kleinen Bahnhof am berühmten gleichnamigen Kammweg, der sich Hunderte Kilometer durch den Thüringer Wald zieht. Unweit vom Rennsteig, am Fuß der Wälder mit ihren großen Revieren liegt Suhl, die Stadt der Jagdwaffen. Etwa 40 Kilometer weiter im Osten, auf der imaginären Linie zwischen Ilmenau und Plauen liegt Kaulsdorf, eine kleine Gemeinde an der Saale. Dort gibt es ein besonderes Schloss, das Ziel meiner Reise: Schloss Eichicht.
Eichicht
Die Straße von Hockeroda nach Kaulsdorf beschreibt einen langen Bogen; dichter Wald säumt sie. Die Zweige der Bäume wogen wie dunkelgrüne Vorhänge. Plötzlich weichen sie zurück und geben für wenige Augenblicke den Blick nach oben frei: Über den Baumkronen, weit oben auf einer Anhöhe erscheint das Schloss. Wie aus einer grünen Insel ragt es empor, als sei es dem Saalewald entwachsen. Nur wenige Sekunden verweilt das Bild, dann geht die Straße in eine Kurve, und Kaulsdorf kommt in Sicht. Doch wenn man im Ortskern nach rechts abbiegt, die Schlossstraße an Fachwerkhäusern und der Dorfkirche entlang hinauffährt, zeigt sich das Schloss aus nächster Nähe. Mit der Gelassenheit jahrhundertealter Gemäuer ruht es auf den Felsen. Sein Fundament ist aus Naturstein. Das Obergeschoss ist mit feinem, rotem Fachwerk durchzeichnet, das seine eigenen Schrägen und wiederkehrenden Symmetrien hat. Das Dach ist ein Meer von Schindeln, ganz anthrazit, ganz Schiefer. Kleine Gaupen blicken wie Augen in die Landschaft. Der Turm im Anbau überragt alles wie ein Finger, der sich in den Himmel reckt.
Eichicht hat eine wechselvolle Geschichte. Seine Ursprünge gehen zurück ins Mittelalter, später fällt es an die Familie von Beulwitz, ein thüringisches Adelsgeschlecht. Nach unruhigen Zeiten im 17. und 18. Jahrhundert ersteht es – nach einer Phase des Leerstands – in den frühen 1920er-Jahren wieder, unter der Ägide des Architekten Bodo Ebhardt. Zu Zeiten der DDR fungiert das Schloss als Alten-, dann als Kindererholungsheim, schließlich als Wohnheim für Lehrlinge der Deutschen Reichsbahn. Ab 1999 ist es in privater Hand; erst 2015 kommt es zum entscheidenden Umschwung: Ein Vierteljahrhundert nach der großen politischen Wende in Deutschland erwerben die Buchholzens das Anwesen und renovieren es. Eichicht wird einer Verjüngungskur unterzogen und bekommt eine neue Ausrichtung: Es wird Familiendomizil – und das Zuhause einer Jagdschule, einer Wildmetzgerei und eines Hofladens.
Tatkraft und Stil
Bei aller Romantik, bei aller Liebe zu historischen Orten und Gebäuden: Romantisch ist es nicht, einen solchen Betrieb zu führen. Im Gegenteil, ein Romantiker im Wortsinn mit seiner Neigung zum Träumen und seiner Innerlichkeit wäre fehl am Platz. Hier sind Tatkraft, Realitätssinn, Unternehmergeist, eine strategische Planung und vor allem Mut erforderlich. Man muss den Blick vom unternehmerischen Hochseil in die Tiefe aushalten können. Finanzen wollen kalkuliert sein, Kredite müssen bedient werden, Personal will gefunden und geführt werden. Hinzu kommt der permanente Spagat zwischen Modernisierung und Denkmalschutz, zwischen eigenen Wünschen und den Vorstellungen der Baubehörde. Doch Catharina und Max Buchholz haben die Gaben der Unermüdlichkeit und der Unverzagtheit. Wo andere gar nicht erst antreten oder auf halber Strecke kapitulieren, fühlen sie sich herausgefordert. „Was wir in Eichicht geschaffen haben, ist das Ergebnis von Mut, Planung und – Fleiß.“ Das Ergebnis spricht für sich – und es spricht die Sinne des Ästheten an. Die historische Substanz ist erfrischt; die Neubauten sind exakt an den Stellen der alten Wirtschaftsgebäude errichtet, im traditionellen Natursteinmauerwerk, das sich mit der historischen Bausubstanz in Stil und Material wie selbstverständlich zu verbinden scheint. Vom Innenhof des Schlosses steigt eine Treppe aus Eichenholz nach oben, in den Trakt, in dem die Gästezimmer liegen. Ein roter Läufer liegt aus, der eine dezente, fast höfische Eleganz ausstrahlt. Eine über 300 Jahre alte, liebevoll restaurierte Eichentür öffnet den Gang zu den Gästezimmern, die als Quartiere für Besucher, vor allem aber für Jagdschüler von auswärts gedacht sind. Hoch und licht sind sie, einige wenige Trophäen zieren sie. Wer würde in solchem Ambiente nicht gerne Wildbiologie pauken, Zahnformeln memorieren, Jagdrecht büffeln?
Das Revier
Zwei große Revierteile gibt es; der eine umgibt direkt das Schloss, der andere liegt unweit entfernt. In der Summe ergeben sie rund 700 Hektar Feld- und Waldrevier mit Reh-, Muffel-, Rot- und natürlich Schwarzwildbestand. Leander Wundrak, Berufsjäger und künftiger Jagdwirt der Deutschen Jagdakademie (DJA), ist für den jagdlichen Betrieb verantwortlich. Er fährt mit mir am frühen Abend hinaus, zu einem der wohl schönsten Plätze der Umgebung mit Blick auf das Schloss. Wundrak hat große Erfahrung, die er auch im Ausland gesammelt hat, und er hat für die Reviere in Eichicht ein eigenes Jagdkonzept entwickelt. Er sei ein Verfechter der Intervalljagd. Das Wild, so Wundrak, brauche viel Ruhe. Drückjagden gebe es daher nicht, auch aus dem einfachen Grund, weil die Fleischqualität zu sehr leide. Gefüttert werde nicht. Nachtsichttechnik komme übrigens nicht zum Einsatz, allenfalls zur Beobachtung. Das Konzept zahle sich aus: Das Wild sei tagaktiv und sehr vertraut; jüngst habe er eine Bache beobachtet, die nur einen Steinwurf entfernt völlig unbeeindruckt ihres Weges zog. Verbiss gebe es kaum. Ein solch puristischer, handwerklicher Ansatz der Jagd beeindruckt: Wald, Wild und Mensch haben hier offenbar zu einer neuen Harmonie gefunden. Wir fachsimpeln, kommen auf Ortega y Gassets „Meditationen über die Jagd“ zu sprechen. Da gibt die Sonne ihr Versteck hinter den Abendwolken auf, taucht die Westfassade des Schlosses in ein warmes Licht und tupft rote und blaue Pastelltöne an den Himmel. Man will sich kaum sattsehen, doch der Hausherr bittet uns bald per Telefon zum Abendessen. Es gibt köstliches Wildfleisch vom Grill, natürlich aus den eigenen Revieren, Wein aus Thüringen und lebhafte Gespräche über die Jagd, ihre Zukunft und ihr Ethos. Am nächsten Tag erklimmt der hauseigene Toyota Hilux mit Leander Wundrak und mir den steilen Weg zum Revierteil oberhalb des Schlosses. Wir klettern auf eine hohe Kanzel an der Waldkante und blicken in die Weite. Der Himmel ist leicht dunstig, feine Schleierwolken ziehen fast unmerklich dahin. Die Sonne steigt langsam in die Höhe und lässt das Laub der Birken in hellem Grün leuchten, ihre Stämme weiß schimmern. Die Seele kommt hier zu Ruhe; plötzlich ist man – fast zwischen Erde und Luft schwebend – dem Alltäglichen enthoben. Wir schweigen, plaudern, mustern die Bäume. Einige Fichten sind Opfer des Borkenkäfers geworden und zu braunen Skeletten abgemagert. Doch der Wald regeneriert sich längst wieder. Birken haben sich angesiedelt und schießen in die Höhe; als Pionierbäume werden sie dem Boden kühlen Schatten spenden und den Weg für die nachfolgenden Nadelbäume bereiten.