Eine Vorliebe Gottes

| Text: Dr. Volker Pesch |

Mit zigtausenden Arten bilden die Käfer die größte Ordnung der Insekten. Dabei hat die Evolution zahlreiche Spezialisten hervorgebracht, die perfekt an ihre Lebensräume angepasst sind. Nicht wenige gelten heute als gefährdet, wie HALALI-Autor Dr. Volker Pesch berichtet.

Es ist ein schlimmer Ohrwurm: „Karl der Käfer“. Eine heute zu Recht vergessene Band namens Gänsehaut setzte ihn in die Welt. Das war 1983 und lieferte der keimenden Umweltbewegung einen ebenso sprachlich simplen wie musikalisch eingängigen Protestsong. „Tief im Wald, zwischen Moos und Farn“, hatte Gerald Dellmann zur Melodie von Dieter Roesberg getextet, „da lebte ein Käfer mit Namen Karl. Sein Leben wurde jäh gestört, als er ein dumpfes Grollen hört.“

Die Deutschen hatten gerade Begriffe wie „Waldsterben“ und „Saurer Regen“ gelernt, der Konflikt um die Startbahn West war eskaliert und Joschka Fischer in Turnschuhen in den Bundestag eingezogen. Ein Song wie „Karl der Käfer“ passte da in die Zeit wie die Latzhose zu Peter Lustig: „Lärmende Maschinen überrollen den Wald, übertönen den Gesang der Vögel schon bald. Mit scharfer Axt fällt man Baum um Baum, zerstört damit seinen Lebensraum.“

Satte 17 Wochen hielt sich „Karl“ in den deutschen Singlecharts und noch viel länger auf den Plattentellern zwischen Kiel und München. Noch heute wird manch ein Käferkundler „Karl“ gerufen, ungeachtet seines Taufnamens. Allerdings sollte es der einzige Hit der Band bleiben. Spätere Singles wie „Schmetterlinge gibt’s nicht mehr“ oder „Johanna das Huhn“ schafften es nicht einmal mehr in die Hitparade.

Real und erschreckend

Dabei muss man der Band und ihren Liedern eines lassen: Sie waren hellsichtig und ihrer Zeit voraus. So naiv und holperig sie auch daherkamen, so real und erschreckend war und ist der sachliche Hintergrund. Es ist nicht überliefert, welche Art von Käfer Modell für „Karl“ stand, die cartoonartige Zeichnung auf dem original Plattencover ist da eher indifferent. Aber das spielt auch eigentlich keine Rolle: Rund die Hälfte aller Käferarten, die in Deutschland und Mitteleuropa vorkommen, gilt aktuell als bedroht.

Weltweit umfasst die Ordnung der Käfer (Coleoptera) 179 Familien mit zusammen 380 000 bis 400 000 Arten. Damit ist sie die größte Ordnung in der Klasse der Insekten (Insecta). In Mitteleuropa sind rund 8 000 Arten beschrieben, in Deutschland 6 500. Die artenreichsten Familien sind Rüsselkäfer (Curculionidae), Kurzflügelkäfer (Staphylinidae) und Laufkäfer (Carabidae), aber auch Blattkäfer (Chrysomelidae), Bockkäfer (Cerambycidae) und Schwimmkäfer (Dytiscidae) sind wahre Großfamilien. Es sind derart viele Arten, dass unter Biologen und Entomologen das Bonmot kursiert, der liebe Gott müsse bei der Schöpfung wohl eine unangemessene Vorliebe für Käfer gehabt haben.

Wenn dem so wäre, dann hätte er jedenfalls im weiteren Verlauf nicht gut auf sie aufgepasst. Denn auf den Roten Listen Europas, der Bundesrepublik und der Länder sind die Käfer stark vertreten – Tendenz steigend. So gelten beispielsweise die Laufkäfer mit ihren 582 in Deutschland vorkommenden Arten und Unterarten als gefährdet. Die aktuelle Liste von 2016 führt 35 % der bewerteten Laufkäferarten als bestandsgefährdet oder bereits ausgestorben. 11 % sind als extrem selten eingestuft, und 10 % stehen auf der Vorwarnliste. Nur 43 % gelten derzeit noch als ungefährdet (1 % konnte wegen unzureichender Daten nicht eingestuft werden). Käfer Karl könnte also ein Ufer-Laufkäfer (Carabus clatratus), Menetries-Laufkäfer (Carabus menetriesi) oder Großer Puppenräuber (Calosoma sycophanta) sein – gefährdet wäre er in jedem Fall.

Das Beispiel der Laufkäfer ist nicht zufällig gewählt. Nicht nur, weil es eine besonders artenreiche Familie ist, wie bereits gesagt, noch dazu eine, zu der viele der bekannten „alltäglichen“ Arten zählen. Sondern auch, weil die Laufkäfer als ökologische Zeigerarten für die Beurteilung der Qualität und Veränderung von Lebensräumen gelten. Denn viele Laufkäferarten haben sehr spezifische Ansprüche an ihre Habitate und können sich nicht oder nur unzureichend an Veränderungen anpassen. Mit anderen Worten: Wo Habitate gesund sind, sind es auch die Laufkäfer-Populationen. Und umgekehrt: Wenn es den Laufkäfern schlecht geht, deutet das auf verschlechterte Lebensräume hin. Die Zahlen der Roten Liste für Deutschland sprechen da eine klare Sprache.

Man muss die Ursachen heute eigentlich nicht mehr eigens benennen – es sind die wohlbekannten Ursachen des allgemeinen Insektensterbens und Verlustes an Artenvielfalt: die intensive Land- und Forstwirtschaft mit ihrem Einsatz von Technik und Chemie, Flächenversiegelung für Verkehr, Industrie und Eigenheime, Veränderung des hydrologischen Niveaus durch Entwässerung (oder auch durch Renaturierung: wo ehemals trockengelegte Flächen wiedervernässt werden, sind ebenfalls Käferarten betroffen!), starke Freizeitnutzung selbst in Schutzgebieten, Veränderungen der Habitate durch den Klimawandel. Den Käfern geht es wie den Bienen oder Schmetterlingen, darüber darf die immer noch große Zahl ihrer Arten und Individuen nicht hinwegtäuschen.

Faszinierende Vielfalt

Es wäre völlig unmöglich, hier eine Übersicht über sämtliche Käferarten oder auch nur deren Familien zu versuchen. Aber bei aller Vielfalt gibt es auch große Gemeinsamkeiten: In der Regel weisen Käfer den typischen Körperbau von Insekten auf, sind also dreigeteilt in Kopf (Caput), Brust (Thorax) und Hinterleib (Abdomen). Allerdings ist das bei vielen Käfern nicht sichtbar, weil Teile der Brust mit dem Hinterleib verbunden und von den Deckflügeln (Elytren) überdeckt sind. Dieses Flügelpaar ist stark chitinhaltig und gewissermaßen Teil des Exoskeletts, es dient vor allem dem Schutz des zweiten, darunterliegenden Flügelpaares. Startet ein Käfer zum Flug, wirkt es deswegen oft so, als öffnete er zunächst zwei stabile Tore und führe dann seine zarten Flügel aus.

Nahezu alle Käfer haben sechs Beine und zwei für den jeweiligen Lebensraum spezialisierte Fühler, die in Form und Funktion bei den einzelnen Arten sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Sie können beispielsweise antennen-, lamellen- oder fächerförmig sein und die unterschiedlichsten Sinnesleistungen erfüllen. Das müssen sie auch, denn mit ihren seitlich angesetzten Facettenaugen aus Dutzenden bis Tausenden Einzelaugen (Ommatidien) können die meisten Arten nicht besonders gut sehen. Wie andere Insekten auch haben Käfer einen offenen Blutkreislauf, ihr Blut ist zugleich auch Gewebsflüssigkeit (Hämolymphe). Ein Tracheensystem dient der Atmung, ein Verdauungskanal der Nährstoffaufnahme und ein Nervensystem der Reizverarbeitung und -steuerung.

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