Essenz und Ethos des Jagens
| Text: Dr. Wolfgang Fleck |
Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset verfasste seine „Meditationen über die Jagd“ in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Essay, ursprünglich das Vorwort zum Jagdbuch eines Grafen Yebes, hat längst den Status eines Klassikers erlangt und ist in viele Sprachen übersetzt worden. HALALI-Autor Dr. Wolfgang Fleck hat sich von dem Text zu einigen philosophischen Betrachtungen inspirieren lassen.
Es gibt Literatur zeitloser Dauer. Es sind jene Werke, die wie Diamanten im endlosen Sand liegen, Werke, die sich hart und unnachgiebig dem Zeitgeist verweigern und spröde gegenüber einer Vereinnahmung bleiben. Sie altern nicht, die Architektur ihrer Gedanken trägt bis heute. Es sind aber auch jene Texte, die zum Widerspruch herausfordern oder zum Weiterdenken anregen. Zu solchen mag man Ortega y Gassets „Meditationen über die Jagd“ rechnen. Sie wurden oft besprochen und immer wieder zitiert. Daher gebietet eine erneute Annäherung an sie einigen Respekt, vielleicht gar Demut. Wer kann schon behaupten, Neues zu entdecken? Doch Ortegas Text ist vielschichtig und komplex. Viele Fäden, die sein feines Gewirke bilden, lassen sich aufnehmen und fortführen.
Das Glückhafte des Jagens
Ortega schreibt über die Jagd im engen Sinne: über die Tätigkeit des Jagens. All das, was wir heute unter „Jagd“ ver-stehen – die Hege, die Revierarbeit, die Abstimmung mit den Jagdgenossen, der Besuch des Schießstands –, ist nicht sein Thema. Sein philosophischer Diskurs beginnt psychologisch. Er fragt nach den Motiven – Warum jagen Menschen? – und gibt eine fast frappierende Antwort: Das Jagen sei eine glückhafte Beschäftigung, weil sie ihren Zweck in sich selbst trage, weil sie ohne Zwang erfolge, weil sie keine mühsame Erwerbsarbeit sei. Die Jagd mag in dieser Hinsicht tatsächlich glückhaft sein, doch ihre Zweckfreiheit ist nicht ihr Alleinstellungsmerkmal. Es gibt andere Dinge, die um ihrer selbst willen getan werden. Man denke nur an einen Kunstsammler oder einen Bastler, der über Jahre hinweg an seiner Modelleisenbahn baut. Doch was macht das Glückhafte oder, vorsichtiger formuliert, den Reiz, das Faszinosum der Jagd aus? Was ist ihre differentia specifica gegenüber anderem zweckfreiem Tun? Die Jagd lässt sich als Spiel deuten, in dem sich Spannung und Langeweile abwechseln. In ihr bilden sich zwei existenzielle Grunderfahrungen ab: die Ungewissheit und die Möglichkeit des Scheiterns – das Wissen, dass jede Jagdpartie auch erfolglos bleiben, schlimmstenfalls im Desaster enden kann. Auch in der Archaik mag ein Reiz der Jagd liegen, den der Jäger trotzig der Moderne abringt. Doch was die Jagd zur ernsten Angelegenheit macht und sie über das bloße Spiel und den Sport erhebt, ist der Tod des Gejagten. Schon die Bereitschaft, ihm den Tod zu bringen, bedarf der Legitimation. Es stellt sich damit keine geringere Frage als die nach der Ethik der Jagd.
Condicio humana
Ortega erkennt die Schwierigkeit des Themas und will ihm ausweichen. Die Tiefe und Breite der Überlegungen, die für den Entwurf einer Jagdethik erforderlich seien, würden ein Vorwort sprengen. Doch wirken seine Bedenken fast zu bescheiden, denn seine Gedanken bieten hierfür reiche Ansatzpunkte. Nicht von ungefähr trägt ein ganzer Abschnitt in seinem Essay den Titel „Jagd und Ethik“. In ihm taucht ein folgenreicher, sogar kursiv gesetzter Satz auf: „Zum guten Jäger“ gehöre „eine Unruhe im Gewissen angesichts des Todes, den er dem bezaubernden Tier“ bringe. Der Jäger habe keine „letzte und gefestigte Sicherheit“, dass sein Verhalten richtig sei – doch er könne sich „auch des Gegenteils nicht sicher“ sein. Im Jäger keimen Zweifel auf, denn er erkennt in seinem Tun ein Moment moralischer Ungewissheit. Die Gründe liegen auf der Hand. Nach der Verkümmerung der Instinkte muss der Mensch die Fülle seines Seins, seine Beschäftigung selbst schaffen. Das Lebensprogramm, das dem Tier durch Instinkte vorgegeben ist, kennt der Mensch nicht mehr. Den Menschen trifft daher die Notwendigkeit, sich jenseits der Wirkmacht des Instinkts selbst deuten und sich in gewisser Weise immer wieder neu erschaffen zu müssen: Der Mensch muss wählen. In der Wahl liegt seine Chance auf glückhafte Momente, in der freien Wahl liegt aber auch der Grund seiner Verantwortlichkeit. Denn der vom Programm der Instinkte emanzipierte, vernunftbegabte Mensch versteht, was er tut, und ist daher gezwungen, sein Handeln immer wieder ethisch zu vermessen. Das ist sein Wesen – und hierin liegt der entscheidende Unterschied zum Tier: Während der jagende Löwe weder Hemmung zu töten noch Mitleid mit dem Gejagten empfindet, reflektiert der Mensch sein Handeln. Er sieht sich beim Jagen gleichsam selbst zu.
Der Mensch als Jäger
Im Blick auf sich selbst erkennt der moderne Mensch einen Jäger besonderer Art. Dies gilt in zweifacher Hinsicht. Zum einen ist er im Gegensatz zum instinktgeleiteten Raubtier nicht zum Jäger vorbestimmt. Er entscheidet sich aus freien Stücken zum Jagen und jagend den Tod zu bringen. Als Jäger nimmt er, wie Ortega so groß-artig wie plakativ formuliert, „Ferien vom Menschsein“. Er kehrt nicht nur in das Reich der Instinkte seiner Ur-ahnen zurück, sondern nähert sich auch wieder dem Raubtier an. „Die Jagd“, so stellt Ortega fest, „ist eine Nachahmung des Tieres.“ Zum anderen ist der Mensch unter allen Lebewesen der einzige Jagdhandwerker. Er nutzt auf der Jagd Werkzeuge, die es im Tierreich – jedenfalls in hoch entwickelter Form – nicht gibt, und ist damit dem Gejagten technologisch überlegen. Die Überlegenheit als Bedingung und Wesenszug der Jagd wird auch von Ortega betont: Die Jagd sei kein Kampf zwischen Gleichstarken. Die jagende Spezies, statuiert Ortega auch mit Bezug auf das Tierreich, sei der gejagten immer überlegen, wenn auch jene Überlegenheit immer nur eine relative sei. Denn die Jagd kann missglücken; der Gejagte kann den Jäger narren und ihm entkommen. Wenn aber der Mensch als Jäger alle Errungenschaften seines überlegenen Verstandes ausnutzte, verschaffte er sich eine extreme Form der Überlegenheit. Sie würde – in Ortega’scher Diktion – absolut. Absolute Überlegenheit sei aber dem Wesen der Jagd diametral entgegengesetzt. Jagd ohne Selbstbeschränkung würde, so Ortega, aufhören Jagd zu sein, „und zwar eben dort, wo der Mensch seiner ungeheuren technischen, also rationalen Überlegenheit […] freien Lauf lässt“. Die Konsequenzen hieraus ergeben sich von selbst: Beschränkte sich der Mensch nicht, nähme er sich das glückhafte, spielerische Jagen und ersetzte es durch das kalkulierte, rationelle Töten. Das Jagen verlöre so seinen elementaren Reiz – „dass es immer problematisch ist“. Wenn der moderne Mensch Jäger bleiben will, muss er also die Position seiner absoluten Überlegenheit auf-geben. Andernfalls würde er „nicht nur die Tiere vernichten, sondern das Jagen selbst, das ihn so begeistert“.
Ethos und Ethik der Jagd
Ortega versteht die Notwendigkeit der Selbstbeschränkung als die Bedingung, als die Essenz der Jagd schlechthin. Seine Überlegungen, so betont er mehrfach, gelten nicht dem Sollen, sondern dem Sein. Doch sind es just diese Erkenntnisse, die als Grundlagen eines Ethos der Jagd dienen können. Zuallererst steht die Einsicht in die Konsequenzen: Ohne jegliches Maß gingen der Reiz der Jagd und damit die Jagd selbst verloren. Hieraus lässt sich ein Ethos der Selbstbeherrschung entwickeln, das nicht zuletzt auch an die Kardinaltugenden der Antike erinnert; Platon etwa spricht von σωφροσύνη (Sophrosýne) und Cicero von temperantia – was sich beides mit „Besonnenheit, Mäßigung“ übersetzen lässt. Kurzum: Will der Mensch sich das Jagen bewahren und sich selbst als Jäger bewähren, muss er sich zurückhalten.