Et in Britannia ego

| Text: Dr. Wolfgang Fleck |

Mit der Jagd in Großbritannien verbinden wir vor allem die Pirsch auf Rothirsch in den Highlands oder auch große Flugwildjagden. Doch sind es andere Dinge, die die Jagd in England und Schottland besonders, fast einzigartig machen: die alten Herrenhäuser, die weitläufige Natur, die Erfahrung der Freiheit, die britische Eleganz, die glanzvolle Geschichte. Eine Hommage an das britische Landleben.

Im Oktober steht immer eine Reise nach Schottland an, seit vielen Jahren. Es sind drei, vier Tage unbeschwerter Zeit in einem Landhaus. Das Estate hoch im Norden, in der Grafschaft Caithness, ist klein, der Flugwildbestand überschaubar. Das Moorhuhn – Grouse – ist dort launisch und unberechenbar. Woodcock, die Waldschnepfe, kommt erst später im Jahr, im November. Die Tauben, die über die Baumkronen hinwegtanzen, scheinen die Schrotgarben förmlich zu sehen und weichen aus. Doch es gibt Enten und auch Fasane.

Wer seine Raison d’Être als Jäger in kapitalen Trophäen oder Abschusszahlen sieht, sollte besser nicht kommen. Jagdlich mag es Größeres, Beeindruckenderes, Effizienteres geben. Die Jagd ist gewiss nicht nur das Beiwerk der Reise, aber sie ist auch nur ein Teil des Ganzen. Die Reise im Ganzen ist mehr – und sie umfasst mehr: den Charme der alten Gemäuer, das gute Essen, den  einen Wein, die holzigen und süßen Aromen des Whiskys, die Gespräche – auch die Lust, den so flüchtigen Moment voll auszukosten, ganz in der Gegenwart zu sein, draußen im Rough mit der Flinte zu stapfen, zu horchen, zu spähen und abends, nach getaner Jagd, so müde zu sein, dass einen die alltäglichen Sorgen nicht mehr einfangen.

Im blaugrünen Sommer keimt immer schon die Vorfreude auf, auf jenen wohnzimmerhaft kleinen Flughafen in Inverness, auf den Moment, in dem der Wind einem ins Gesicht fasst – kühl und doch freundlich. Es ist fast ein Ritual: Das Tweed-Jackett wird zugeknöpft, der Schal enger gezogen, der Nieselregen mit der Mütze abgehalten. Man ist nicht mehr Tourist, man ist Reisender. Der Weg ist altbekannt, doch jedes Mal wieder eine Entdeckung. Und es ist eine Reise zurück in die Bilderwelt des wirklichen und idealen Britanniens.



Die Bilder der Vergangenheit

Es gibt archetypische Vorstellungen von England und Schottland. So unterschiedlich sie sein mögen, eines eint sie: Das Landhaus ist der Mittelpunkt der britischen Zivilisation. Roger Scruton meint sogar in seiner persönlichen Hommage „England, eine Elegie“, es sei das Ideal der englischen Kultur. Das wissen auch wir Kontinentaleuropäer, wir kennen es aus Romanen, aus TV-Serien, von Reisen. In Evelyn Waughs „Brideshead revisited“ ist der Familiensitz sogar titelgebend: Brideshead. Auch in den komischen Episoden von „Jeeves & Wooster“ (von P. G. Wodehouse) flüchtet Titelheld Bertie Wooster regelmäßig aus seiner Stadtwohnung aufs Land. In den Doyle’schen Geschichten rund um Sherlock Holmes, jenen exzentrischen und genialen Detektiv, spielen englische Landhäuser ihre ganz eigene Rolle. Sie sind keine namenlosen Adressen, sie sind keine beliebigen Unterkünfte, keine Wohnungen, keine Apartments – es sind Persönlichkeiten. Sie tragen allesamt Namen: „Blood Oaks“, „Baskerville Hall“, „Three Gables“, „Shoscombe Old Place“. Sie sind eingesponnen in die Episoden, sie kennen die freudigen, tragischen und sinistren Geheimnisse ihrer Bewohner. Wer würde nicht gerne einmal in einem solchen Haus wohnen und es nachts leise raunen hören?

Sieht man jene imaginierten Bilder von Landhäusern, meint man, vor einem Guckkasten zu stehen, der einem den Blick in die Geschichte erlaubt. In diesem Blick liegt auch ein naives Verlangen nach einer besseren Zeit, nach einem märchenhaften arkadischen Land und auch die – vielleicht spezifisch deutsche – Sehnsucht nach einer ungebrochenen Geschichte, nach einer von der großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts ungetrübten Vergangenheit. Man weiß um die Illusion, doch man hofft heimlich, die herbstliche Reise nach Schottland zur Jagd sei nicht nur eine Reise in den Raum, sondern auch eine Reise zurück in die Zeit. Doch die Zeit läuft unbarmherzig ab. Die einst so großen Tage Britanniens haben sich längst geneigt – und so wünscht man sich, zumindest noch jene Momente der Dämmerung festzuhalten, in denen die letzten Sonnenstrahlen das Land in ein warmes rotes Licht tauchen, in denen die Nacht nur eine Ahnung und der Morgen noch fern ist.

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