Fressen und Gefressenwerden – das ewige Spiel der Evolution
| Text: Dr. Johanna Maria Arnold und Dr. Janosch Arnold |
Fressen und Gefressenwerden ist das alte Spiel des Lebens. Wie in einem Wettrüsten entwickeln Räuber wie auch Beute immer bessere Fähigkeiten und Strategien, um ihr Ziel zu erreichen. Es ist zu einfach, zu glauben, dass sich Räuber und Beute in ihren Populationen eindimensional beeinflussen. Viele Einflussfaktoren wirken auf Wildtierbestände, und auch Jägerinnen und Jäger sind Teil des Räuber-Beute-Spiels.
Was ist Prädation?
Der Begriff Prädation (von dem lateinischen Wort praedatio = Raub) beschreibt eine Interaktion, bei der Individuen einer Art töten und in der Lage sind, einen erheblichen Teil der Biomasse von Individuen einer anderen Art zu konsumieren. Dieses Beziehungssystem zweier Arten führt in einer Vielzahl der Fälle zu einer Koevolution von Räuber und Beute, eine wechselseitige Anpassung beider Arten mit dem Ziel des Räubers, mehr Beute zu machen, und mit dem Ziel der Beute, dem Räuber zu entkommen. Meist wird der Begriff bei karnivoren Tierarten verwendet, der Luchs tötet und frisst ein Reh beispielsweise, aber auch karnivore Pflanzenarten, wie z. B. der Sonnentau, werden inkludiert. In der Wissenschaft versteht man unter Prädation weiterhin samenfressende Finken oder die Interaktion zwischen Insektenparasitoiden und ihren Wirten. Und es geht auch so weit, dass der Fraß von Pflanzenfressern an Pflanzenmaterial als Prädation bezeichnet wird. Manchmal wird auch der Befall von Krankheitserregern in die Definition eingeschlossen. Die Verwendung des Begriffes ist nicht eindeutig, bezieht sich aber im deutschen Sprachgebrauch meist auf tierische, fleischfressende Beutegreifer, die ihrer Beute nachstellen, sie packen, töten und fressen. Auch die Jagd ist letztendlich Prädation und der Jagende ein Prädator, eine ungewöhnliche Nomenklatur im Selbstverständnis der Jagd, aber ökologisch betrachtet korrekt.
Bestandsdynamik
Die Jagd ist heute für viele Wildtiere mit Jagdzeit ein wichtiger Mortalitätsfaktor. In Form eines Steuerungselementes, wie einer angestrebten Regulierung, ist dies auch beabsichtigt. Die Faktoren, die Wildtierbestände beeinflussen, sind dabei vielfältig. Die Wirkung der Jagd ist daher auch nicht isoliert, sondern in einem Wirkungsgefüge zu betrachten. So wirken der Lebensraum, Witterungs- und Klimabedingungen, die An- oder Abwesenheit von Beutegreifern sowie deren Dichte, An- und Abwesenheit von Konkurrenzarten sowie deren Dichte, Krankheiten und weitere menschliche Einflüsse (z. B. Störungen) wie auch das immanente Reproduktionsverhalten auf Wildtierpopulationen ein.
Besonders intensiv wird die Rolle der Beutegreifer (Räuber) auf die Beute beim Rotfuchs nebst seinem Einfluss auf die Niederwildbestände diskutiert. Betrachtet man die Jagdstreckenentwicklungen der Arten, so könnte man eindimensional zu der Schlussfolgerung kommen, dass steigende Zahlen von Rotfuchs und anderen Beutegreiferarten den Rückgang von Bodenbrütern wie Rebhuhn und Fasan oder dem Feldhasen verursacht haben. Doch der Schein trügt, denn der Rückgang der Niederwildarten wie Feldhase oder Rebhuhn begann bereits am Anfang des letzten Jahrhunderts. Er begann mit der Intensivierung der Agrarlandschaften und mit der Erfindung eines besonderen chemischen Verfahrens, mit dessen Hilfe synthetischer Dünger hergestellt werden konnte. Nun war es nicht mehr nötig, Flächen wie in der bis dahin gängigen Dreifelderwirtschaft stillzulegen. Dies diente dazu, dass der Boden sich erholen konnte und gegebenenfalls durch den Anbau mit stickstoffbindenden Leguminosen wieder mit Nährstoffen angereichert wurde. So gab es in dieser extensiven Agrarlandschaft für viele Niederwildarten eine günstige Lebensraumausstattung hinsichtlich Äsung und Deckung, die zu höherer Dichte auch durch eine geringere Mortalität in der Jugendklasse führte.
Erst mit der Entwicklung der Ammoniaksynthese, dem Haber-Bosch-Verfahren von 1909, konnte die nach Stickstoffdünger lechzende Agrarwirtschaft befriedigt und eine immer stärker anwachsende Bevölkerung ernährt werden (Erisman et al. 2008). Auch die bis dato kleinstrukturierte extensive Landwirtschaft mit ihren Stilllegungsflächen wandelte sich in eine immer intensiver genutzte Agrarlandschaft. Und das Blatt wendete sich: Aus Gewinnern einer extensiven Agrarlandschaft wurden Verlierer der intensiven Agrarlandschaft. Sinkende Jagdstrecken in ganz Europa seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts geben einen ersten Hinweis darauf, dass sich die Situation für die Agrarlandprofiteure änderte. Die Feldhasenbestände haben sich auf einem geringen Niveau eingependelt, das Rebhuhn gilt derzeit als stark gefährdet, in einigen Bundesländern sogar als vom Aussterben bedroht. Die intensive Ausgestaltung der Landwirtschaft mit ihrem Verlust an Struktur, Äsungsvielfalt, Insektenbiodiversität und Deckungsmöglichkeit sowie die Technisierung der landwirtschaftlichen Praktiken führten zu sinkenden Niederwildzahlen (Smith et al. 2005). Die Ursache lag nicht in der Dichte oder einer Zunahme der Beutegreifer wie der des Rotfuchses. Die Tollwutbekämpfung mithilfe der oralen Immunisierung der Vektorart Rotfuchs (ausgelegte Impfköder) seit der 1980er-Jahre führte zu einem steten Anstieg der Rotfuchs-population. Seit 2008 gilt Deutschland nun als tollwutfrei, ein großer Erfolg, aber mit der Ausrottung der Tollwut entfiel ein wichtiger natürlicher Mortalitätsfaktor, der bis dato die Fuchsdichte regulierte. Auch andere Wildtierarten profitierten mutmaßlich von der Immunisierung; auch Dachs- und Marderzahlen nahmen deutlich zu. Es gibt Hinweise darauf, dass z. B. beim Marder diese Entwicklung bereits früher einsetzte, was auf das Mitwirken anderer Faktoren wie z. B. der Klimaerwärmung hindeutet (Arnold 2007).
Natürlich fressen Beutegreifer wie Rotfüchse oder Marder auch seltene oder geschützte Arten, sie sind aber auch anpassungsfähig. Der Rotfuchs insbesondere, seine Verbreitung auf der gesamten Nordhalbkugel spricht für sich: Er ist wenig wählerisch, was Nahrung und Lebensraum anbelangt. Seine Hauptbeute sind Kleinsäuger, vor allem Mäuse, aber auch Wildkaninchen oder junge Hasen. Dazu kommen Frösche und Jungvögel, Aas, Früchte und Abfälle. Anpassungsfähige Arten sind wenig wählerisch und können das auch nicht sein, weil sie nicht auf ein beständig hohes Nahrungsangebot angewiesen sein dürfen, wollen sie erfolgreich sein. Sind Beutetiere selten, schwenken Rotfüchse, wie andere opportunistische Beutegreifer auch, auf andere Arten um.
Heftige Diskussionen entbrennen, wenn es um die Bejagung der Niederwild-Fressfeinde geht. Hier spalten sich die Lager: Intensive „Raubzeugbekämpfung“ und „Natur-Natur-sein-Lassen“ stehen sich gegenüber. Traditionell wurden Wildarten bejagt, die als Jagdkonkurrenten oder Nahrungskonkurrenten galten. Rotfuchs, Steinmarder und Co. waren unliebsame Schädlinge, denen man „Herr werden musste“. Auch das Verschwinden von Bär, Wolf und Luchs kann auf den hohen Verfolgungsdruck zurückgeführt werden. Dahinter stand nicht nur jagdliches Konkurrenzdenken, sondern auch Interesse der ländlichen Bevölkerung. Übergriffe auf Nutztiere konnten allzu schnell zu existenziellen Bedrohungen führen, ein Kompensationssystem gab es zu diesen Zeiten noch nicht.