Hannah Shergold — Kopfsprung ins Ungewisse

| Text: Gabriele Metz |

Sie ist verwegen, furchtlos und experimentierfreudig. Und all diese Eigenschaften spiegeln sich auch in den Werken der britischen Künstlerin Hannah Shergold, deren Atelier einen faszinierenden Blick auf die Kathedrale von Winchester bietet.

Wenn Hannah Shergold in Begleitung von zwei Jagdhunden durch den Wald streift, wirkt sie wie das nette Mädchen von nebenan. Auf dem Chesterfield Sofa vor einigen ihrer Kunstwerke sitzend, gestiefelt und mit übereinandergeschlagenen Beinen, verrät sie viel Selbstbewusstsein. Ihr Porträtfoto, auf dem sie den Betrachter durch vier vor das Gesicht gehaltene Palettenmesser hindurch anblickt, macht Eindruck und spiegelt die entschlossene Heldin, die ihr Leben für andere riskiert. Der Schein trügt nicht. All das ist Hannah Shergold, deren Leben so abwechslungsreich ist wie ihre Kunst.

Einzigartige Technik

„Mein künstlerischer Schaffensprozess gleicht einem Kopfsprung ins Ungewisse. Präzision ist leicht umsetzbar, aber sie hat keine Seele“, sagt Hannah Shergold. Nachdem die Britin 2016 aus Kenia zurückgekehrt war, entwickelte sie ihren ganz eigenen Stil und eine eigene Technik, die durch den Einsatz von Ölfarben und Palettenmessern geprägt ist. Es sind diese horizontalen und vertikalen Striche, die ihren Gemälden eine unverkennbare Struktur verleihen und sie einzigartig machen, weil man die von ihr gewählten Motive ansonsten eher selten mit der geometrischen Komponente gerader Linien verbindet. Dabei fängt Hannah die Energie und den Bewegungsfluss ihres Motivs ein, indem sie die Impasto-Technik anwendet, bei der die Farben mal mehr und mal weniger deckend aufgetragen werden. Zudem arbeitet Hannah Shergold gerne mit einer eher ungewöhnlichen Farbgebung. Der Arbeitsprozess ist von Schnelligkeit geprägt, weil die Farbe nass sein muss, um sie weiterbearbeiten zu können.

Glücklicher Zufall

„Eigentlich ist meine Technik einem glücklichen Zufall zu verdanken“, verrät Hannah und fährt fort: „In meinem Herzen bin ich eine Wissenschaftlerin – vielleicht sogar eine Perfektionistin. Ich neige dazu, zu viel Kontrolle auf mein Werk auszuüben, um die größtmögliche anatomische Korrektheit zu erzielen. Als einmal eine meiner Arbeiten ihre Lebendigkeit und ihren Fluss zu verlieren drohte, griff ich frustriert zu einem Palettenmesser und bearbeitete damit die Leinwand. Eigentlich mit dem Ziel, das Werk zu zerstören, und überhaupt nicht, um es zu verbessern. Aber als ich sah, wie fulminant danach die Farben ineinander übergingen und dadurch ungeahnte Effekte entstanden, hielt ich inne. Heute bediene ich mich gezielt dieser Technik, um die Energie meiner Werke zu bewahren.“ Leicht fällt Hannah das Ganze nicht. Sie muss sich regelrecht dazu zwingen, ein Gemälde auf die Details zu reduzieren, die es dem Betrachter ermöglichen, das Motiv zu erkennen. „Mir gefällt es, den Betrachter zum Nachdenken anzuregen. Es soll eine Herausforderung sein, das eigent-liche Motiv zu sehen, das immer wieder von Linien und Schatten durchzogen wird, die zudem – aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet – variieren. Die Herausforderung für mich liegt vor allem darin, das Gleichgewicht zwischen Abstraktheit und Realismus zu finden“, offenbart Hannah.

Kunst als Komfortzone

„Die Kunst ist mein Zuhause. Sie bedeutet für mich Komfort und Sicherheit. Eigentlich bin ich aber eine Wissenschaftlerin“, sagt Hannah Shergold, deren Werdegang mindestens so ungewöhnlich ist wie ihre Kunst. Alles begann mit einem Studium der Veterinärmedizin an der legendären Cambridge University. Gleichzeitig entdeckte die vielseitig interessierte Britin ihre Liebe zur Bildhauerei und wurde darüber hinaus Helikopterpilotin der britischen Armee. Was sie anpackt, ist von Erfolg gekrönt. Somit verwundert es nicht, dass Hannah Shergold heute zu den erfolgreichsten unabhängigen Künstlern des gesamten Vereinigten Königreichs gehört. Ihr wissenschaftliches Know-how ist bemerkenswert und wurde vom Studium der Tiermedizin ebenso geprägt wie von den physikalischen und mechanischen Aspekten der Fliegerei. Allerdings ist ihre Liebe zur Kunst so groß, dass sie immer wieder zur Priorität wurde.

Profundes anatomisches Wissen

Nach dem Masterabschluss an der Cambridge University vor 18 Jahren etablierte sich Hannah Shergold innerhalb kurzer Zeit als Bildhauerin, was sicherlich auch ihrem profunden anatomischen Wissen zu verdanken ist. Dieses befähigt sie, Wildtiere und Haustiere gleichermaßen naturgetreu darzustellen. Nach internationalen Ausstellungen in Zusammenarbeit mit dem Department of Trade and Investment übernahm sie zahlreiche private Aufträge. Schließlich folgte ein Auftrag der British Army, zwei bedeutende Kunstwerke für die Armee zu schaffen – und so entstanden die beiden Bronzeskulpturen „Der springende Luchs“ und „Das angreifende Nashorn“. Hannah Shergold beweist eine Vielseitigkeit, die nur ein reger Geist zu entwickeln vermag. „Meine Triebfeder ist das Lernen. Es gibt so unendlich viel zu lernen. Und Wissen ist letztendlich so leicht zugänglich, wenn man sich darauf einlässt“, versichert die Künstlerin. Doch nicht nur der Wissensdurst, sondern auch Abenteuer und Herausforderungen locken Hannah, die die Royal Military Academy Sandhurst absolvierte und dann im Army Air Corps aufgenommen wurde. Mit der Infanterie ging es nach Afghanistan, danach begann das Flugtraining, das sie 2013 mit der Zulassung als Lynx-Pilotin abschloss. Die Britin mit dem schönen und zugleich entschlossenen Gesicht diente der britischen Armee in vielen Ländern der Welt; unter anderem in Deutschland, Kanada und Kenia. 2015 gab es einen Einsatz in Kenia im Bereich der medizinischen Versorgung und Evakuierung. Oftmals war sie in entlegenen, unwirtlichen Wüstenregionen stationiert und flog mehrfach verletzte Personen in lebensbedrohlichen Zuständen in medizinische Einrichtungen in Nairobi.

309 000 £ für wohltätige Zwecke

Hannah ist es ein besonderes Anliegen, Menschen in Not zu unterstützen. Und dieses Bedürfnis vereint sie gekonnt mit ihrer großen Passion: der Kunst. „Es reicht einfach nicht, mit der Kunst lediglich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Meiner Ansicht nach muss Kunst auch etwas zurückgeben“, sagt sie. Keine leeren Worte. Seit 2018 – dem Jahr, in dem sie die britische Armee verließ – brachte sie 309 000 £ Spendengelder für wohltätige Zwecke zusammen. Unter anderem für das UK Team der Invictus Games Foundation, die Born Free Foundation, den World Wildlife Fund und ihren aktuellen Wohltätigkeitspartner, die Naturschutzorganisation Tusk. Zahlreiche Auszeichnungen und eine überragende Presseresonanz runden das Portfolio der Künstlerin ab, deren Arbeiten rund um den Globus Anerkennung erfahren. Ihre Werke finden sich innerhalb bedeutender Sammlungen in Frankreich, der Schweiz, Australien und Singapur.

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