Hirschkühe, Helden, Himmelsbilder – Jagd im griechischen Mythos

| Text: Dr. Wolfgang Fleck |

Der griechische Mythos lebt bis heute fort, in zahlreichen Namen und Wendungen unserer Sprache. Viele Details geraten jedoch in Vergessenheit. Umso mehr lohnt die Lektüre seiner großen Erzählungen, in denen sich auch viele Jagdszenen finden. HALALI-Autor Dr. Wolfgang Fleck streift durch die Landschaften des mythischen Griechenlands und trifft dort auf Götter, Menschen und Tiere.

An den Gestaden des Mittelmeers, in Aulis, hat sich eine ganze Flotte aus Ruderbooten mit Segeln versammelt. Das Heer der Griechen will aufbrechen, auf einen Feldzug in eine feindliche Stadt, ins ferne Ilios. Doch die Schiffe können nicht auslaufen, weil es eine Windstille gibt. Nicht ein Lüftchen regt sich, die Segel hängen matt an den Masten. All dem ist Unerhörtes vorangegangen. Zank gibt es, himmlischen wie irdischen. Der Heerführer, Fürst Agamemnon, hat sich den Zorn der Göttin der Jagd, Artemis, zugezogen. Er hat einen ihr geweihten Hirsch und einen Widder erlegt und geprahlt, er könne besser jagen als die Göttin selbst. Artemis ist empört und hat den Winden Einhalt geboten.

Artemis – grausam und impulsiv

Die griechischen Kämpfer sind verdrossen. Man sinnt auf Krieg und Rache, denn Unrecht ist geschehen. Helena, die schöne Frau des Menelaos, ist von Paris entführt worden, dem Sohn des trojanischen Königs Priamos. Die Trojaner sollen nun bezahlen – Troja soll fallen. Da verkündet der Seher Kalchas die unmenschliche Forderung der zürnenden Göttin: Die Tochter Agamemnons, Iphigenie, soll den Opfertod sterben, damit die Flaute endet. Das ist die Strafe für die ungezügelte Jagdlust und die Prahlerei ihres Vaters. Doch kurz vor dem Äußersten beendet Artemis das sadistische Spiel. Sie entrückt Iphigenie nach Tauris – und legt eine Hirschkuh auf den Opferaltar. Die Winde wehen wieder, und die Flotte läuft aus. Das ist das Vorspiel einer der großen Kriegsmythen der Menschheit; es ist auch das Vorspiel eines furchtbaren Familiendramas, der Geschichte von Klytämnestra, Agamemnon und ihren Kindern, Elektra und Orest – und es ist die Folge eines Jagdfrevels.

Die Götter der Griechen sind sehr menschenähnlich: leidenschaftlich, machtbewusst, rachsüchtig. Artemis – im römischen Reich als Diana bekannt – ist da keine Ausnahme. Sie ist nicht nur die Göttin der Jagd, sondern auch der Jungfräulichkeit. Sie herrscht über den Wald; in ihr Ressort fallen auch Geburt, Frauen und Kinder. Sie ist eine von jenen zwölf großen olympischen Göttern, Tochter des Zeus und der Leto, die Zwillingsschwester des Apollon. Ihr Charakter ist komplex. Wer sie nur so sieht, wie sie in der bildenden Kunst dargestellt wird – leicht bekleidet mit praktischem kurzem Gewand, ausgerüstet mit Pfeil und Bogen samt Köcher, lieblich, vielleicht fast aufreizend –, täuscht sich in ihr. Artemis kann grausam sein, unerbittlich, eifersüchtig – und sie ist immer recht schnell beleidigt.

Die Hirschkuh von Keryneia

Um Artemis ranken sich viele Geschichten und viele Figuren. Auch sie muss die Jagd erst erlernen; ein Naturtalent ist sie offenbar nicht. Ihre jagdliche Initiation erlebt sie mit fünf Hirschkühen. Vier von ihnen kommen zur Strecke, die fünfte – Kerynitis – entlässt Artemis wieder in die Wälder. Das Schicksal – jene mächtige Kraft, der auch die Götter unterworfen sind – bestimmt die Kuh für einen entfernten Verwandten der Göttin: für Herakles. Er soll dereinst, so will es die Vorsehung, der Hindin so lange nachstellen, bis er müde wird.

Jene Hirschkuh, die Herakles später auf Geheiß des Eurystheus fangen soll, ist teils Zwitter, teils Fabelwesen. Sie hat bronzene Hufe, ein goldenes Geweih und soll außerordentlich schnell laufen können. Da das wunderbare Tier der Artemis geweiht ist, darf Herakles es nur fangen, aber nicht erlegen. Ein ganzes Jahr soll er der prächtigen Hindin nachstellen. Auf seiner Jagd gelangt er zu den Hyperboreern, jenem sagenhaften, glücklichen Volk im Norden; er kommt zu den Quellen des Isters, einem Unterlauf der Donau, und holt die Hirschkuh am Fluss Ladon in Arkadien ein – kein Wunder also, dass auch ein Halbgott müde wird. Wie er sie letztlich bezwingt, weiß auch der Mythos nicht genau. Man erzählt sich zum einen, dass Herakles ein Netz über die schlafende Hirschkuh wirft – zum anderen, dass er sie an den Platz bannt, indem er ihre beiden Vorderläufe mit einem Pfeil durchschießt. Da er genau zwischen Sehnen und Knochen trifft, fließt kein Blut. Meisterlich! Nur ein Gott vermag solches – oder zumindest ein Halbgott.