Im Land der roten Felsen

| Text: Ilka Dorn |

HALALI-Redakteurin Ilka Dorn folgte der Einladung des dänischen Jagdreiseveranstalters Rasmus Pagh in das bergige Hinterland der Côte d’Azur. Hier lernte sie die Seealpen, die „Alpes-Maritimes“, kennen und verliebte sich im Laufe einer spannenden Gamsjagd in die überraschend gebirgige Landschaft mit ihren roten Felsmassiven und dem sanften mediterranen Klima.

Wenn es eine Jagdart gibt, die einen ganz besonderen Reiz auf mich ausübt, dann ist es die Gamsjagd im Gebirge. Selten werden das jagdliche Können und die eigenen körperlichen Fähigkeiten so sehr herausgefordert wie bei der Jagd auf diese faszinierende Wildart. Dabei kommt es nicht nur auf die persönliche Fitness und Kondition an, sondern auch auf Durchhaltevermögen, Trittsicherheit und je nach Terrain natürlich auch ein gewisses Maß an Schwindelfreiheit. Neben der persönlichen Herausforderung sind es aber vor allem die wunderschöne Umgebung und die beeindruckende Landschaft der Berge, die einen mühseligen Aufstieg schnell vergessen machen und dieses Jagderlebnis zu etwas ganz Besonderem machen.

Als ich im letzten Jahr im Winter die Reise nach Südfrankreich plante, ahnte ich noch nicht, dass im Herbst ein solch unvergessliches Erlebnis auf mich warten würde. Ich folgte einer Einladung des dänischen Jagdreiseveranstalters Rasmus Pagh, der mich einlud, in den französischen Seealpen, den sogenannten „Alpes-Maritimes“, auf Gams zu waidwerken, und hatte dort eines meiner schönsten Jagderlebnisse. Doch davon ahnte ich damals freilich noch nichts, denn zu der Zeit der ersten Reiseplanungen befanden sich Jagdreisen für uns noch in weiter Ferne. Corona hatte uns noch fest im Griff, und die Impfkampagne rollte nur schleppend an. An Urlaub oder Reisen war noch nicht zu denken – Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und Abstandsregelungen waren die alles beherrschenden Maxime, und an eine Flugreise, auch wenn sie uns nur ins benachbarte Frankreich führen sollte, war damals nicht zu denken. Und so sagte ich nur unter Vorbehalt zu, appellierte zugleich an meine Besonnenheit und versuchte meine Vorfreude zu bezähmen, um nicht am Ende doch noch enttäuscht zu werden.

Doch der Frühling zog ins Land, und mit der wärmeren Jahreszeit sanken die Corona-Zahlen – ich schöpfte erste Hoffnung. Im Sommer verzichteten wir noch auf einen Urlaub, doch für den Herbst sah es vielversprechend aus, sodass ich mit den ersten Vorbereitungen für die Reise begann. Rasmus und ich einigten uns auf einen Termin Anfang Oktober, und ich buchte meinen Flug. Nizza ist der Zielflughafen für die Region und von Düsseldorf bequem per Direktflug erreichbar. Die Reisebeschränkungen waren längst aufgehoben, Südfrankreich galt nicht mehr als Risikogebiet, und die Corona-Auflagen für die Einreise waren dank Impfung minimal. Es stand einer Reise nach zwei Jahren Zurückhaltung in puncto Jagdreisen ins Ausland nichts mehr im Wege.

Die französischen Seealpen bezeichnen den westlichen Gebirgszug der Alpen, der im Süden bis ans Mittelmeer reicht. In Frankreich zählen dazu die Départements Alpes-Maritimes und Alpes-de-Haute-Provence, das Fürstentum Monaco und auf der italienischen Seite der Seealpen das Piemont. Ein Gebiet also, das landläufig eher für seine mondänen Badeorte, langen Sandstrände und luxuriösen Hotels bekannt ist als für seine wildromantische Berglandschaft. Doch ich wollte mich gerne eines Besseren belehren lassen und freute mich schon sehr darauf, eine für mich bis dahin noch komplett unbekannte Gegend der Alpen kennenzulernen.

Ich landete am späten Nachmittag in Nizza, wo mich Rasmus bereits erwartete. Von der Côte d’Azur selbst bekam ich nicht viel zu sehen, denn unser Weg führte uns direkt ins Landesinnere. Kaum hatten wir Nizza hinter uns gelassen, türmten sich bereits rechts und links der Straße die ersten Berge bis in den Himmel auf. Wir fuhren durch enge Schluchten, während die Dämmerung anbrach und die Außenwelt um uns herum nach und nach in Dunkelheit versank und keinen Blick mehr auf die Landschaft ermöglichte. Nach einer knappen Stunde hatten wir unser Ziel erreicht. Die Gemeinde Rigaud, die am Fuße des gleichnamigen knapp 2 000 m hohen Berges Tête de Rigaud liegt, ist ein typisches französisches verschlafenes Bergdörfchen mit knapp 200 Einwohnern. Die Unterkunft im Gemeindehaus, in dem Rasmus für uns zwei kleinere Appartements angemietet hatte, war einfach, aber zweckmäßig – und das Bett rief angesichts der langen Anreise bereits meinen Namen. Wir verabredeten uns für den morgigen Tag für 4.30 Uhr und besprachen noch kurz das weitere Vorgehen. Ich schaffte es gerade noch, meine Sachen zurechtzulegen und fiel wenig später in einen tiefen Schlaf.

Der Wecker riss mich aus meinen Träumen. Es war 4 Uhr, und draußen war es stockdunkel. Ein kleines Frühstück in Rasmus’ Appartement half mir auf die Beine zu kommen, und dann ging es auch schon los. Das Revier war groß, und um zum Ausgangspunkt unserer heutigen Pirsch zu gelangen, mussten wir noch knapp eine Stunde fahren. Wir kamen nur langsam voran. Dafür waren die unebenen Bergwege einfach in einem zu schlechten Zustand, doch der Pick-up schaffte die Strecke ohne Probleme. Der Morgen graute bereits am Horizont, und allmählich wich das Einheitsschwarz um mich herum einem dunklen Grau. Erste Konturen wurden sichtbar. Die Berge und Hügel zeichneten sich am Horizont ab, und Richtung Osten zeigte sich ein erster schmaler blassoranger Streifen. Es würde ein schöner Tag werden …

Wir bogen gerade um eine weitere Kurve, als vor uns schemenhaft Rotwild auftauchte und am Horizont verhoffte. Es äugte zu uns herüber, schien uns jedoch nicht als potenzielle Gefahr wahrzunehmen. Wir blieben stehen und genossen den Anblick, während unten im Tal erste Brunftrufe ertönten. Von der anderen Seite des Tals meldete sogleich ein weiterer Hirsch, und erst jetzt wurde mir bewusst, dass wir uns ja mitten in der Brunft befanden. Da wir in unserem heimischen Revier kein Rotwild als Standwild haben, ist die Hirschbrunft immer etwas, was bei uns jagdlich gesehen nicht auf dem Kalender steht. Umso mehr freute ich mich, eventuell hier noch den einen oder anderen Hirsch zu Gesicht zu bekommen und den Brunftschreien lauschen zu können.

Das Rotwild am Horizont wandte sich langsam von uns ab und trollte von dannen. Rasmus drängte uns zur Weiterfahrt, wir hätten es nicht mehr weit. Tatsächlich parkte er nur kurze Zeit später den Pick-up auf einem Hochplateau am Wegesrand. Vor uns lag der Berg Tête de Rigaud, der mit seiner charakteristischen Form ein wenig an einen Vulkan erinnert. Das Hochplateau bot einen fantastischen Blick auf die angrenzenden Berge und Täler, und auch wenn die Sonne noch nicht ganz aufgegangen war, konnte ich bereits das atemberaubende Panorama genießen. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt die Umgebung ja noch gar nicht richtig wahrnehmen können. Doch jetzt konnte ich sehen, wovon Rasmus mir bereits im Auto vorgeschwärmt hatte. Es war wirklich eine ganz be-sondere Landschaft, ganz anders als die klassischen Alpen, die ich gewohnt bin und die ich mir vorgestellt hatte. Wild und unberührt, gleichzeitig karg und rau, breiteten sich vor uns die imposanten Berge aus. Tiefe, enge Schluchten durchzogen das Gelände, die dunkle Schatten in das sich mir bietende Bild warfen. Schroffe, steile Felswände wechselten sich mit flachen Hochplateaus und sanften Hügeln ab und boten einen faszinierenden Kontrast. Dazwischen immer wieder flache Vegetationszonen mit Ginster, Schwarzdorn und Buchsbaum. Weiter unten im Tal konnte ich Fichten und Lärchen erkennen, die die tiefen Schluchten noch dunkler erscheinen ließen. Doch das, was die Landschaft so unverwechselbar machte und ihr einen ganz eigenen Charakter verlieh, war das intensive rote Schiefergestein der Felsen. Von allen Seiten leuchteten die Berge in den verschiedensten Rottönen im Licht der aufgehenden Sonne und wirkten auf mich wie von einem fremden Planeten stammend. Das poröse Material türmte sich an den Felswänden in dünnen Schichten auf, entwickelte mitunter bizarre Formen und wirkte schroff und fast unwirklich. Der Boden unter uns bestand aus dem zerkleinerten Gestein, das wie roter Sand wirkte und an eine Marslandschaft erinnerte. Knirschend gab das weiche Material unter mir nach, während ich mich staunend nach allen Seiten umdrehte.

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