Kraxelglück und Kindergarten
| Text: Dr. Johanna Maria Arnold und Dr. Janosch Arnold |
Die Gämse steht für Gebirge und jagdliche Herausforderung. Ihr Leben in den Gebirgsregionen Europas und Kleinasiens zeigt die Anpassungen an die herausfordernden Lebensräume dieser hochsozialen Schalenwildart.
Lebensraum Gebirgszüge Eurasiens
Die Gämse (Rupicapra spp.) ist in den inneren Gebirgszügen Eurasiens, vom Kaukasus bis zur Iberischen Halbinsel, verbreitet und wird derzeit in zwei Arten eingeteilt: Rupicapra rupicapra und Rupicapra pyrenaica (Corlatti et al. 2011). Erstere lebt in Mittel- und Osteuropa, in Anatolien und dem Kaukasus und umfasst sieben Unterarten (cartusiana, rupicapra, tatrica, carpatica, balcanica, asiatica und caucasica). Letztere ist in Südwesteuropa verbreitet und umfasst drei Unterarten (parva, pyrenaica und ornata). Die Alpengämse (Rupicapra rupicapra) kommt in Albanien, Österreich, Aserbaidschan, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Frankreich, Georgien, Deutschland, Griechenland, Italien, Montenegro, Nordmazedonien, Polen, Rumänien, Russland, Serbien, Slowenien, in der Slowakei, der Schweiz und der Türkei vor. Eingeführt wurde sie in Tschechien und Neuseeland. Die Pyrenäen-Gämse (Rupicapra pyrenaica) hat ein deutlich kleineres Verbreitungsgebiet, es erstreckt sich über die Länder Andorra, Frankreich, Italien und Spanien (IUCN 2022).
Gämsen bewohnen steile, felsige Gebiete in den Bergen an der Waldgrenze mit großen Offenlandflächen und Karen. Sie nutzen eine Vielzahl von Lebensräumen. Dazu gehören Almwiesen, offene Felsgebiete, Laubmischwälder und Nadelwälder (Pedrotti und Lovari 1999). In den Alpen leben sie meist über 1 800 Meter Seehöhe und suchen im Winter südexponierte, sonnige und steile Einstände auf. Am tiefsten stehen sie im Frühling. Dann ziehen sie dem aufkommenden Grün der Talwiesen entgegen. In schneereichen Wintern werden eher Einstände im Wald gesucht, ansonsten kann die Gämse auch in den Hochlagen überwintern. Die Gämse ist kein reiner Felsenbewohner, sie ist auch eine Waldart. Gerade im Frühjahr und im Sommer bietet der Waldlebensraum ein viel-fältiges, proteinreiches Nahrungsangebot aus Gräsern und Kräutern, Stauden, Blättern und Knospen von Sträuchern und Laubbäumen sowie Trieben und Pilzen; Nadelhölzer werden zu dieser Jahreszeit kaum aufgenommen (Sägesser und Krapp 1986, Miller 2014). Die Gämsen können sich in ihrer Anpassung an extreme Gebirgslebensräume und die winterliche Brunft als einzige europäische Wildwiederkäuerart vom hochselektiven Äsungs-Intermediärtyp (Selektion von leicht verdaulichen Pflanzen wie Kräutern) zum anspruchslosen Raufutterfresser wandeln. Im Sommer fasst ihr Pansen je nach Geschlecht sieben bis zehn Liter, in der Brunft reduzieren die geschlechtsreifen Gamsböcke die Nahrung drastisch auf nur noch drei Liter Panseninhalt. Nach der Brunft hat der Gamspansen wieder ein Fassungsvermögen von über zwölf Litern bei extrem reduzierter Zottenoberfläche bis weit in das Frühjahr hinein. Das bedeutet physiologisch, dass die nährstoffarme und meist ausgelaugte Bodenvegetation (fast ausschließlich eine reine Zellulosenahrung) in der vergrößerten Gärkammer, dem Pansen, langsam bakteriell aufgeschlossen werden kann (Hofmann 2017).
Gämsen kamen auch in Mittelgebirgen vor, wie z. B. in den steilen Wäldern der Schweiz. Auch im Schwarzwald und in den Vogesen waren Gämsen in historischer Zeit als Standwild heimisch, bevor sie dort durch Überjagung ausgerottet wurden (Linderoth 2005). Auch heute noch gibt es regelmäßig Nachweise von Gämsen → im Schwarzwald, auf der Schwäbischen Alb oder im Donautal, die auf immer noch bestehende Fernwechsel hinweisen (MLR 2022). Die Art ist also keineswegs nur auf alpine Bereiche zu begrenzen. Aus archäozoologischen Forschungsergebnissen der Schweiz weiß man, dass die Gämsen am Ende der letzten Eiszeit geschlossen bewaldete Lebensräume besiedelt haben. So fanden Archäologen in den jungsteinzeitlichen Siedlungen unserer Vorfahren Knochen von Beutetieren. Gefundene Speisereste, die dem Gamswild zugeschrieben werden konnten, belegen, dass die Gämsen bewaldete Lebensräume nutzten (in Barkhausen o. J.). Die Schweiz war zu dieser Zeit (etwa 6 000 bis 2 000 v. Chr.) nach der letzten Eiszeit wieder weitgehend bewaldet. Die Schweizer Forscher Baumann und Struch stellen in ihrer „Rückeroberungsthese“ fest, dass der Wald ein ursprünglicher und natürlicher Lebensraum der Gämsen ist, den sie nun nach Phasen der Verdrängung langsam wieder einnehmen. Im Wald besiedelt die Gämse vorrangig sehr steile Gebiete; dort nämlich ist die Gefahr, durch Raubtiere getötet zu werden, am geringsten. In den vergangenen Jahrzehnten wurde vermehrt davon berichtet, dass sich das Gamswild Waldlebensräume (zurück-)erobert, die die Menschen durch ihren Rückzug aus Bergdörfern und Almen verlassen haben (Miller und Corlatti 2009). In vielen Regionen, wie in der Nähe von Triest und im Berner Oberland, finden sich Gamspopulationen in Einständen auf lediglich 300 bis 400 Meter über dem Meeresspiegel.
Waldgams oder Gratgams?
Der Frage nach der Typenwahl des Gamswildlebensraumes widmeten sich die Forscher Baumann und Struch im Berner Oberland. Sie wollten he-rausfinden, warum und wie diese Tiere im Wald leben. Das Untersuchungsgebiet erstreckte sich von etwa 800 bis 2 200 Meter über dem Meer und umfasste sowohl Wald und Weiden als auch alpine Rasen. Das Tal wurde nicht durch den Tourismus beunruhigt. Auch Schafe drängten die Gämsen nicht in die Waldgebiete; es ließ sich also von einer freien Lebensraumwahl ausgehen. Für die Aufenthaltsuntersuchungen wurden insgesamt 25 Tiere mit Telemetriesendern versehen. Nach der Auswertung dieser Daten kristallisierten sich drei verschiedene Gamswildlebensraum-Typen heraus: die sogenannten „Waldgämsen“, die sich das ganze Jahr über fast ausschließlich im Wald aufhielten. Die „Wechselgämsen“ lebten zwar einen Großteil des Jahres im Wald, bevorzugten aber während des Sommers Gebiete an der Waldgrenze und darüber. Die „Alpingämsen“ (oder Gratgämsen) schließlich lebten praktisch nur oberhalb der Waldgrenze. Der Lebensraum Wald erfüllte zwar alle Überlebensansprüche der Gämsen sehr gut, doch forderte der Luchs in den bewaldeten Bereichen viele Opfer. Zusätzlich zur Großkatze wurden die Tiere auch vom Menschen im Wald stärker bejagt; so starben jährlich 20 % der Waldgämsen im Untersuchungsgebiet. Im Gegensatz dazu hatten die Gratgämsen eine Überlebenswahrscheinlichkeit von 92 %. Auch im Nationalpark Berchtesgaden konnten diese bei-den Gamstypen mithilfe telemetrischer Untersuchungen unterschieden werden. Die Gratgämsen ziehen in die Höhe und treten dort in
vergleichsweise höheren Dichten (Gamswildrudel mit mehr Rudelmitgliedern) auf. Die Populationsdichten im Wald sind dabei geringer; nur im Frühjahr tritt auch dort eine sehr hohe Konzentration auf, da zu diesem Zeitpunkt beide Gamstypen hier ihren Einstand haben. Aber nicht immer und überall gilt diese mehr oder weniger statische Einteilung der Gamstypen, und auf keinen Fall kann man hier von Unterarten sprechen. Viel zu komplex ist es auch, die menschlichen Einflüsse, von traditioneller Landnutzung über die Jagd bis hin zu modernen Sportarten, zu quantifizieren, die einen großen, ja möglicherweise sogar übergeordneten Einfluss auf die Aufenthaltsorte der Tiere ausüben.