Mehr, als das Auge sieht
Marion Veltens Tiergemälde machen demütig

| Text: Gabriele Metz |

So kraftvoll und doch zerbrechlich. So würdevoll und zugleich vorsichtig. So präsent und doch stets bereit zur Flucht. So schützenswert. Die französische Malerin Marion Velten blickt den Tieren in die Seele und versteht es, diese Erfahrung voller Liebe und Respekt in ihren hyperrealistischen Werken darzustellen.

Der offene Blick aus großen braunen Augen, sinnliche Lippen und langes dunkelblondes Haar … Marion Velten wirkt selbst wie eines der zarten, scheuen Wesen, die sie mit feinen Strichen auf die Leinwand zaubert. Doch sobald sie zu Pinsel oder Kohlestift greift, füllen eine unerschütterliche Zielstrebigkeit und Selbstbewusstsein den Raum. Dann ist die französische Tiermalerin voll und ganz in ihrem Element. Tief versunken in den Moment, hält sie einzigartige Augenblicke fest, die sie zuvor hautnah in der Natur erlebt hat. Fotorealistisch? Das könnte man auf den ersten Blick mutmaßen, doch die Werke offenbaren weitaus mehr. „Ich versuche keineswegs, die Realität präzise darzustellen, sondern sie zu transzendieren, indem ich der Abbildung eine Seele einhauche“, sagt Marion Velten. Und es gelingt ihr tatsächlich, die Grenzen der Realität zu überschreiten, eine überschärfte Wirklichkeit darzustellen, was die 30-Jährige zu einer ernst zu nehmenden Vertreterin des Hyperrealismus macht.

Trotz Grenzüberschreitung liegen ihren Arbeiten oft reale Begegnungen zugrunde. Ein ganz bestimmter Moment im Wald bleibt unvergessen. „Auf einem meiner Streifzüge durch den Wald entdeckte mich ein junger Rehbock. Ich verharrte, und er beobachtete mich eingehend. Schließlich umkreiste er mich und vollzog ausgelassene Bocksprünge – als wollte er mich zum Spielen auffordern. Doch ich spielte nicht mit, sondern bemühte mich, reglos zu bleiben, um ihm Sicherheit zu geben“, erinnert sich die Malerin und Illustratorin, die selbst mit zwei Katzen und zwei Hunden zusammenlebt. Ein Leben ohne ihre Tiere möchte sie sich gar nicht vorstellen, ebenso wenig wie ihre Kunst ohne Tiere. Deshalb ist es nachvollziehbar, weshalb eines der ersten Werke ihren eigenen Hund Iloé zeigt. Das Gemälde ist eine unverkäufliche Herzensangelegenheit und birgt zudem eine kleine Anekdote. „Damals mangelte es mir an Materialien, und ich verwendete schließlich einen Pappkarton, den ich in einem Mülleimer fand, anstelle einer Leinwand“, schmunzelt Marion Velten.

Doch auch wenn die eigenen Vierbeiner mitunter Protagonisten ihrer Kunst sind, üben Wildtiere eine ganz besondere Faszination auf die Frau aus, die 1990 in Dijon das Licht der Welt erblickte und in der Bourgogne zwischen Wäldern und Flüssen naturnah aufwuchs. Der Gedanke an die Wildtiere, die uns diskret – oft gänzlich unbemerkt – umgeben, zieht die Absolventin der Lyoner École de Dessin et d’Illustration Emile Cohl in den Bann. „Ich spüre eine enge Bindung zu diesen Tieren und fühle ihre Kraft. Manchmal ist es ein kurz erhaschter Blick, eine anmutige Haltung, ein naher oder ferner Kontakt zum Wildtier, der mich erfasst …“, beschreibt die Französin die Momente, in denen die empathische Bindung entsteht, die den Gemälden später diese unverwechselbare Ausdruckskraft verleiht.

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