Reproduktion beim Wildschwein
| Text: Dr. Johanna Maria Arnold und Dr. Janosch Arnold |
Der Klimawandel hat große Auswirkungen auf die Nahrungssituation des Wildschweins. Er beeinflusst weiterhin sein Reproduktionsgeschehen und damit maßgeblich die Populationsdynamik. Die seit Jahrzehnten steigenden Wildschweinzahlen zeugen davon.
Die Diskussionen um die Hintergründe rapide steigender Schwarzwildzahlen reißen nicht ab. Viel wurde diskutiert über die Rolle der Leitbache und die aus deren Abschuss resultierenden zerstörten Rottenstrukturen: Frischlinge würden beschlagen werden, die Population gerate außer Kontrolle. Folgen daraus wären wiederum ein Frischen zur Unzeit, nach oben schnellende Bestände und immense Wildschäden. Und es stimmt, immer öfter werden auch außerhalb der klassischen Frischzeiten Frischlinge gesetzt. Und ja, die Bestände steigen, und die Jagd tut sich schwer, den Zuwachs abzuschöpfen. Aber was sind die wahren Hintergründe für die Frischzeiten und das frühe Beschlagen der weiblichen Jungtiere?
Zahlreiche Studien aus Europa zeigen, dass das ganze Jahr über gerauscht und gefrischt werden kann. Sie zeigen ferner, dass die ausschlaggebenden Faktoren dafür – neben der Tageslichtlänge – die Fraßverfügbarkeit sowie die Witterung sind.
Eintreten der Geschlechtsreife
Die Geschlechtsreife tritt mit dem Beginn der Bildung befruchtungsfähiger Eizellen beim weiblichen Tier bzw. von Samenzellen beim männlichen Tier ein (Briedermann 2009). Beim Wildschwein ist der ausschlaggebende Faktor zum Eintritt in die Pubertät der weiblichen Tiere nicht das Alter, sondern das Gewicht (Appelius 1995, Ahmad et al. 1995, Biber & Ruf 2005, Malmsten et al. 2017). Nichtsdestotrotz hängt die Körpermasse deutlich mit dem Alter zusammen (Malmsten et al. 2017). Die aus der Literatur zu entnehmenden Mindestgewichte schwanken zwischen 14 kg (Linderoth et al. 2010) und 28 kg (Stubbe & Stubbe 1977). Angegeben wird in der Literatur meist das Aufbruchgewicht (ohne innere Organe, Schweiß und Schwarte), wobei dieses Gewicht etwa drei Viertel der Lebendmasse ausmacht (Stubbe & Stubbe 1980, Briedermann 2009).
Einige Autoren nennen sogar noch leichtere Gewichte, wie das Beispiel von Ahrens (1984) zeigt. Er konnte in den 70er-Jahren bereits eine Frischlingsbache mit 12 kg Gewicht (aufgebrochen) mit Föten nachweisen. Diese Ereignisse stellen aber eher Ausnahmen dar. Briedermann (1986) weist darauf hin, dass das Gesamtkörperwachstum manchmal nicht mit der physiologischen Geschlechtsreife Schritt halten kann. Auch nach Beobachtungen von Meynhardt (1978) an einer futterzahmen Rotte kam es immer wieder zu Mortalitätsereignissen beschlagener Frischlingsbachen (sechs bis sieben Monate) beim Geburtsvorgang aufgrund von Beckenenge. Weiterhin sind die postnatalen Verluste bei diesen frühreifen Tieren mit schwacher körperlicher Entwicklung deutlich höher als bei Bachen mit höheren Körpergewichten (Briedermann 2009).
Weibliche Wildschweine können somit bereits in ihrem ersten Lebensjahr geschlechtsreif werden. Diese Erkenntnis ist nicht neu und wird bereits seit längerer Zeit in der Literatur beschrieben (s. Borggreve 1877 sowie Krichler 1887, zitiert in Briedermann 1986). Die Angaben für die Mindestalter in Bezug auf das Erreichen der Geschlechtsreife liegen nach der Bewertung durch Gelbkörperfunde im Ovar bei vier bis elf Monaten (Cellina 2007, Delcroix et al. 1990). Bereits Oloff beschreibt in seinem Buch „Zur Biologie und Ökologie des Wildschweines“ aus dem Jahr 1951 die (nahrungsassoziierte) frühe Geschlechtsreife der Bachen im Solling folgendermaßen: „Nach Mastjahren dagegen rauschen bereits die 8–10 Monate alten, teilweise sogar jüngeren Frischlinge. Auch sie werden fruchtbar beschlagen und setzen kurz nach Vollendung, ja zuweilen schon vor Ablauf ihres ersten Lebensjahres die erstaunlich hohe Zahl von bis zu 6 Frischlingen.“
Bei den männlichen Frischlingen wird der Beginn der Geschlechtsreife mithilfe endokriner Werte ermittelt. Eine Untersuchung in Baden-Württemberg zeigte: Die Konzentration des Geschlechtshormons Androstenon (verursacht auch den rauschigen Keilergeruch) steigt bis zum Alter von zehn Monaten kontinuierlich an. Dann, im Alter von etwa zehn Monaten, wurden Konzentrationen von mehr als 0,5 Nanogramm pro Gramm Fett erreicht. Dieser Wert wird als Schwellenwert für den Eintritt in die Pubertät angenommen (Treyer 2008). Die Progesteronkonzentration liegt bei den weiblichen Tieren bis zu acht Monaten bei etwa 5 Nanogramm pro Milliliter Plasma. Die Schwelle von > 5 Nanogramm pro Milliliter Blutplasma, ab der der Eintritt der Geschlechtsreife vermutet wird, wird im neunten Lebensmonat mit durchschnittlich 13 Nanogramm Progesteron pro Milliliter Plasma deutlich überschritten (Treyer 2008). Auch andere Studien, wie z. B. in Frankreich von Mauget & Boisson (1987), werten den signifikanten Anstieg der Testosteronkonzentration und den ersten Nachweis von Spermatozoen bei einem Körpergewicht von 30 bis 35 kg und einem mittleren Hodengewicht von 53 g als Zeitpunkt des Beginns der Geschlechtsreife ab dem zehnten Monat. Diese Studie zeigte auch, dass die Hodengewichte sowie die Testosteronkonzentration im Januar und März ihren Höhepunkt haben, die geringsten Werte fanden die Forscher von Juli bis September.
Bei der Untersuchung von Hodengewebe von Keilern aus Hessen und Rheinland-Pfalz kam Neef (2009) zu einem noch früheren Eintritt der Geschlechtsreife. So definierte er als zeugungsbereit diejenigen Individuen mit einem Testosteronspiegel von mehr als 0,7 Nanogramm pro Milliliter sowie einer fortgeschrittenen Spermatozytogenese. Nach seiner Definition waren bereits über vier Prozent der sechs- bis siebenmonatigen Frischlingskeiler zeugungsbereit, bei den acht- bis neunmonatigen Tieren waren es über 19 Prozent und bei den zehn bis 13 Monate alten Keiler mehr als 37 Prozent. Alle älteren Keiler waren zeugungsbereit (Neef 2009).