Sommerpirsch im Weizen

| Text: Oliver Dorn |

Für viele Jägerinnen und Jäger ist die Pirsch die Königsdisziplin der Jagd. Sie ist anspruchsvoll – und wenn auch nicht unumstritten, vervielfacht sie doch das Naturerlebnis Jagd bedeutend. Revierpächter und HALALI-Autor Oliver Dorn nimmt Sie mit auf eine frühsommerliche Weizenpirsch.

Unser Revier, das wir mit einem guten Freund teilen, liegt im Rhein-Hunsrück-Kreis. Es ist ein typisches Feld-Wald-Revier mit einem vertretbaren Bestand an Reh- und Schwarzwild. Fuchs und Hase sagen sich hier noch Gute Nacht, denn der dörfliche Charakter hat sich (zum Glück) bis heute erhalten. Nur die zahllosen Windräder und die Erholungsuchenden, die die Feld- und Waldwege an den Wochenenden bevölkern, trüben bisweilen unser Naturerlebnis in unserem zweiten Zuhause. Nur ab und an sorgt dann der Anruf eines der hier ansässigen Landwirte für etwas Kummer, wenn Wildschaden gemeldet und geltend gemacht wird. Dabei bestätigt sich die Formel „Wenig Land – hohe Forderung“ immer wieder aufs Neue. Die Haupterwerbslandwirte bei uns wissen hingegen, dass Tiere – auch die wilden – fressen müssen, und drücken in der Regel ein oder gar beide Augen zu, wenn wir gemeinsam durch die zerwühlten Flächen gehen. Und in der Regel wird aus dem Fraß kein Schaden gemacht, sodass wir mit einem Wildbret-Deputat oder auch schon mal 50 bis 100 Euro glimpflichst davonkommen. Im vergangenen Jahr jedoch war alles anders. Die zerkauten Ähren wurden mehr und mehr, ganze Schläge gaben ein trauriges Bild ab. Die Übeltäter konnten wir teils mit der Wärmebildkamera ausmachen, aber dann mangels Licht mit einem Schuss in den nahen Boden nur kurzfristig verscheuchen. So summierte sich der Schaden im Weizen im Vorjahr auf satte 1 000 Euro. Das tat weh.

In diesem Jahr, so nahmen wir es uns vor, wollten wir uns mehr Zeit nehmen, um entlang der Felder Wechsel und erste Fraßspuren über Ansitz und Pirsch im Auge zu behalten. Nun liegt mir persönlich die Pirsch weit mehr als das beharrliche Sitzen und Warten auf das Wild. Übertreibt man es dabei nicht, beachtet Einstände, Wechsel und Winde und überschätzt vor allem nicht seine eigenen Fähigkeiten, verdirbt man es sich bei dieser Jagdart auch nicht so schnell mit seinem Wildbestand. Warum ich so gern pirsche? Weil ich es als eine persönliche Herausforderung sehe, ein Wildtier, das uns in allen Sinnen überlegen ist, zu bezwingen. Und damit meine ich nicht den sicheren Schuss aus der Entfernung, sondern die Fähigkeit, so nah an ein Stück heranzukommen, dass ich seinen Atem hören oder es, im Falle des Schwarzwilds, riechen kann. Das ist Pirsch, das ist echte Jagd für mich. Bei der Pirsch nehme ich die Natur und ihr Schauspiel so wahr, wie sie ist – als großartiges Phänomen. Das Erwachen der Natur, am noch frühen Morgen, fasziniert mich ebenso, wie wenn sie sich nach der Blauen Stunde am späten Abend zur Ruhe begibt. Das ist dann auch die Stunde, in der das Schwarz-wild aus seinen Einständen auf der Suche nach Fraß austritt.

An diesem Wochenende im Juli, die Milchreife ist landaus, landein durch die anhaltende Trockenheit früher eingetreten als im Vorjahr, steht der Mond bereits am Horizont, als ich mich zur Pirsch in einen entlegenen Revierteil langsam fertig mache. Ich wähle keine festen Jagdstiefel, sondern dunkle Sneaker, die ich sonst zur Jeans trage. Die verwaschene Jagdhose hat mittlerweile jegliche wasserabweisende Beschichtung verloren und sitzt locker und bequem. Das schwarze Polohemd ist meine erste Wahl bei den sommerlichen 20 Grad, die das Thermometer noch anzeigt. Die Tarnjacke ist aus einem dunklen Stoff mit helleren Flecken und macht meine Silhouette in der Vegetation von Wald und Feld nahezu unsichtbar.

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