Traumböcke

| Text: Bertram Graf von Quadt |

Sie zieren prahlerisch die Prospekte von Jagdreiseanbietern, sie prangen an den Wänden der besten Präparatoren, sie sorgen in den Sozialnetzwerken für Like-Gewitter und Neidbekundungen: Traumböcke. Groß, dick, lang, stark. Und manchmal fragt sich HALALI-Autor Bertram Graf von Quadt, was so einen „Traumbock“ eigentlich ausmacht.

Neben meinem Schreibtisch steht ein kleines Bücherkarussell mit ein paar ausgewählten und lieb gewonnenen Bänden darin. Und auf diesem Möbel stehen drei Böcke: Der eine hat 27 cm Stangenlänge, der zweite wiegt heute noch 670 Gramm, und der dritte hat Perlen, die schier daumenbreit sind. Es sind die drei besten Böcke meiner verstorbenen Mutter. In unserem letzten Gespräch bat sie mich, diese drei Böcke zu mir nach Hause zu nehmen: „Ich will nicht, dass die weggeschmissen werden!“ Das nenne ich klare Prioritätensetzung. Sie war eine große Jägerin und hat in ihrem langen Leben recht viele und teils hochkapitale Böcke erlegt. Die drei waren ihr aber die wichtigsten. Wir haben oft über die drei geredet, und einmal habe ich angesichts des Stärksten der drei gefragt, ob das ihr Traumbock sei. Sie hat mich damals erstaunt angesehen: „Was soll das denn sein, ein Traumbock?“

Damals war mir die Antwort klar: ein Guter! Mit den Jahren und der Zahl erlegter (auch guter) Böcke änderte sie sich: einer, auf den die Jagd spannend, reich und besonders war. Heute frage ich mich nicht mehr, was mein Traumbock ist. Ich stelle mir die gleiche Frage wie meine Mutter: Was soll das sein? Ist ein Traumbock einer, den ich mir schon lang erträumt habe, einer, auf den ich jagdlich alles probiert habe, der mir immer wieder entwischt war? Das ist mein persönliches Jagen nicht, das war es auch nie. Als junger Jäger, der mitjagen durfte, stellte sich die Frage erst gar nicht. Da hatte ich den Arbeitsabschuss zu machen. Als ich mir mein eigenes Revier zugelegt hatte, da waren mir die, die ich lange kannte, die ich genau wusste, eigentlich uninteressant. Die durften die Freunde und die Gäste erjagen und erlegen und hatten hoffentlich die gleiche Freude dran wie ich am Stehenlassen und Anschauen.

Ist ein Traumbock einer, der mir sozusagen im Traum erschienen ist? Von Gagern beschreibt das in seinen Büchern immer wieder: dass ihm vor dem inneren Auge der oder jener Revierteil aufgetaucht sei, auf Platz und Baum genau. Oft genug war auch ein ganz bestimmter Bock in diesen Visionen, und mehr als einmal kam es dann in seinem Uskokenrevier genau so: Da saß er dann exakt am erträumten Fleck, der geschaute Bock kam und wurde erlegt. Ich habe mir so etwas oft gewünscht. Aber mein inneres Auge hat da leider seinen blinden Fleck.

Traumböcke sind mir die, von deren Jagd ich lange und zum Teil heute noch träume. Von denen habe ich eine ganze Reihe, und dass ich das sagen kann, dafür danke ich meinem Schöpfer und all denen, die mich erzogen haben. Denn um solche Traumböcke an der Wand zu haben, dazu braucht es die ein oder andere Fähigkeit. Ich rede nicht von den einschlägigen handwerklichen Fähigkeiten, die man für die Bockjagd braucht. Die helfen sicher, aber sie sind in diesem Punkt nicht entscheidend. Es geht um andere Fähigkeiten: Wertschätzung ist eine davon. Das hat viel mit Dankbarkeit zu tun, geht aber noch ein wenig darüber hinaus. Denn in jedem Bock, den man erlegt oder erlegen darf, steckt eine Menge Arbeit – egal, ob es ein kleiner Knopfbock irgendwo „hinterm Haus“ oder ein Sibirier mit mehr als einem Kilo Geweihmasse ist. Irgendjemand hat da etwas dafür getan: den Hochstand aufgestellt, den Bock womöglich bestätigt, sprich schon mal gesehen, und nicht geschossen, hat also drauf verzichtet. Hat mich vielleicht sogar hingeführt und zum Schuss gebracht. Hat mich jagen lassen, hat mir diesen Traumbock beschert. Das ist Arbeit, die wertgeschätzt sein will, auch wenn es die eigene Arbeit war. In vielen Fällen wird diese Arbeit der anderen abgegolten, sei es mit Geld oder einer Flasche Schnaps, sei es mit einer Gegeneinladung oder sonstwie. Aber das ist keine Wertschätzung. Das ist Ausgleich. Wertschätzung ist mehr. Es ist das Wissen darum, dass jemand etwas dafür getan hat, dass ich ein Erlebnis haben darf.

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