Überlebensstrategien im Winter
| Text: Dr. Johanna Maria Arnold und Dr. Janosch Arnold |
Der Winter bringt große Herausforderungen für die Tierwelt unserer Breiten mit sich – die Temperaturen sind niedrig, und Nahrung ist oft schwer zu finden. Im Wesentlichen überleben alle Lebewesen kalte und karge Zeiten durch eine der drei folgenden Strategien: Anpassung (Änderung von Verhalten oder körperlichen Merkmalen), Migration (Umzug in eine andere Umgebung) oder Winterschlaf (Verlangsamung des Stoffwechsels und Energieeinsparung durch Ruhe und Starre). Aber auch andere schwierige Zeiten wie Trockenheit oder hoher Prädationsdruck bringen Wildtiere dazu, ihren Stoffwechsel zu verlangsamen und in Starre bzw. Ruhe zu gehen. Insbesondere der Winterschlaf ist eine komplexe Angelegenheit.
Endotherme (gleichwarme) Wildtiere wie Säugetiere oder Vögel sind in der Lage, die Körper-temperatur willentlich zu steuern. Körperwärme wird unabhängig von der Umgebungstemperatur produziert. Dahingegen sind poikilotherme (wechselwarme) Wildtiere wie Wirbellose, Fische, Reptilien und Amphibien vollständig von der Umwelttemperatur abhängig. Dieser Unterschied beeinflusst auch die Strategie des Überlebens im Winter. Im Folgenden wollen wir uns einige Beispiele für Anpassungsprozesse, Migration und Winterschlaf ansehen. Dabei wählt jede Tierart ihre eigene Strategie nach individuellen Mustern aus.
Winteranpassung
Beispiel Rothirsch und Reh
Bei der Anpassung an winterliche Temperaturen sowie Nahrungsknappheit kann es zu unterschiedlichen Ausprägungen kommen. Ein besonderes Beispiel hierfür sind die Wildwiederkäuer: Bei ihnen kommt es neben der Entwicklung von Winterfell zum Temperaturrückhalt, insbesondere zu einem Umbau des komplexen Magensystems. Bei den Ruminantia laufen die Stoffwechselprozesse in einem relativ stabilen Temperaturbereich, jedoch kann zwischen der Temperatur im Körperkern und in der äußeren Körperschale unterschieden werden. Von übergeordneter Wichtigkeit ist die Aufrechterhaltung der Temperatur im Körperkern mit den wichtigen Organen und des Gehirns. So wird bei Absenkung der Körperkerntemperatur durch Einschaltung thermoregulativer Prozesse die Wärmebildung im Körper erhöht, was mit einer Erhöhung des Energieverbrauchs einhergeht.
Die Temperatur in der Körperschale wie den äußeren Körperteilen, Gliedmaßen, der Haut und Unterhaut wird stark von der Außentemperatur beeinflusst. Eine wichtige Rolle spielt hier die Durchblutung, da durch diese über das Blut aus dem Körperinneren Wärme zugeführt wird. Der Durchblutungsgrad hingegen hängt wiederum von dem Aktivitätsniveau des einzelnen Tieres ab. Die Temperatur im Körperkern und die in der Körperschale können stark variieren (Sommer 2004). Dies zeigte auch eindrucksvoll ein Forschungsprojekt an Rothirschen (Cervus elaphus) von Turbill und Kollegen (2011), bei dem die Stoffwechsel-rate und die Körpertemperatur von weiblichem Rotwild durch Fütterungsexperimente untersucht wurde: Sie konnten zeigen, dass die jahreszeitliche Veränderung der Pulsrate, also der Stoffwechselintensität, durch veränderte Fütterungsmengen nicht ausgehebelt werden konnte.
Rotwild reagiert auf Futterknappheit unabhängig von der Jahreszeit mit einer Reduktion der Pulsrate. Auch die innere Wärmebildung nimmt ab, was zu einer Absenkung der Körpertemperatur führt. Die Reduktion von Pulsrate und Körpertemperatur bei den untersuchten Alttieren erfolgte zwar erstaunlich rasch, der niedrigste Wert wurde aber erst nach acht Tagen gemessen. Man geht davon aus, dass Umbauvorgänge in den Zellmembranen erfolgen müssen, bevor eine niedrigere Körpertemperatur toleriert werden kann. Damit einher geht auch eine eingeschränkte Fluchtfähigkeit der Tiere, da ja erst wieder die periphere Durchblutung geöffnet werden muss. Auch beim Reh (Capreolus capreolus) finden diese Anpassungsprozesse statt, obgleich die Effekthöhe der Reduktion der Stoffwechselrate im Winter und der Wiederanstieg im Frühjahr weniger hoch sind als beim Rotwild oder Steinwild (Capra ibex). Kleinere Tiere haben generell eine höhere Stoffwechselrate. Ihr Organismus ist kleiner, und sie kühlen rascher aus, da die wärmeabgebende Körperoberfläche im Vergleich zum Volumen groß ist (Arnold 2013).
Manche Vorgänge setzen Wärme frei. Eine spezielle Besonderheit von Wiederkäuern liegt in der Wärmefreisetzung durch mikrobielle Fermentation in Pansen und Dickdarm. Diese zusätzliche Wärmeproduktion trägt zur Aufrechterhaltung der Körperkerntemperatur bei. Grundsätzlich sind Kohlenhydrate das beste Nährsubstrat für die Pansenmikroorganismen und die ideale Quelle für eine zusätzliche Wärmebildung. Pflanzenfresser wie das Rehwild sind außerhalb der Vegetationsperiode einer Doppelbelastung ausgesetzt: Dem drastisch reduzierten Vorhandensein von Nahrung stehen die bei Kälte höheren energetischen Kosten der Wärmeregulation gegenüber. Wildtiere haben durch evolutionäre Prozesse bemerkenswerte An-passungen entwickelt, um diesem Dilemma zu trotzen. So reduziert das Rehwild etwa ab dem Zeitpunkt der Wintersonnenwende seine Nahrungsaufnahme im Winter – der mit einem Rückgang proteinreicher Äsung einhergeht – um 30 bis 40 %. Ende Dezember bis Ende März wird der gesamte Stoffwechsel reduziert. Ein Vorgang, wie er bis vor Kurzem nur von Winterschläfern (s. u.) bekannt war und der nicht nur das Rehwild betrifft, sondern auch beispielsweise beim Rotwild, Stein- und Gamswild gut untersucht wurde (Arnold et al. 2004, Signer et al. 2011, Arnold 2013). Durch eine Absenkung der Stoffwechselaktivität, die vor allem durch die Toleranz einer niedrigen Körpertemperatur möglich ist, verringert sich folglich der Energiebedarf während der Winterzeit. Gesteuert werden die jahres- und tageszeitlichen Anpassungen von der Tageslänge.