Verlorene Paradiese
| Text: Dieter Stahmann |
Die Menschen haben immer von einer besseren Welt geträumt. Als sie nach der Neolithischen Revolution die harte Landarbeit kennenlernten, erschien ihnen selbst die Zeit der Eiszeitjäger als Paradies.
Im gesamten europäisch-vorderasiatischen Raum gibt es den Mythos von einer untergegangenen besseren Welt, angefangen mit dem Garten Eden der Sumerer, dem Goldenen Zeitalter der Griechen und der untergegangenen Insel Atlantis über das verlorene Paradies der Bibel bis hin zur klassenlosen Gesellschaft des Marxismus. „Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Morgen und setzte den Menschen darein, den er gemacht hatte. Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, lustig anzusehen […]“ (1 Mose 2,8–9) Bei dem Griechen Hesiod (um 700 v. Chr.) heißt es vom „Goldenen Geschlecht“: […] keines der Güter missten sie; Frucht gab ihnen das nahrungsspendende Saatland gern von selbst und in Hülle und Fülle; und ganz nach Belieben schafften sie ruhig das Werk im Besitze der reichlichsten Gaben, wohl mit Herden gesegnet […]“ Auch der römische Dichter Ovid schilderte das Goldene Zeitalter als positives Spiegelbild seiner Zeit: „Da war ewiger Lenz, und gelind mit lauem Gesäusel küsste die Blumen der West, die sprosseten ohne Besamung. Nicht vom Pfluge bestellt trug bald auch Halme die Erde; ohne zu ruhn ward grau von belasteten Ähren der Acker. Ströme von Milch nun wallten daher und Ströme von Nektar […]“ Das war etwas ganz anderes als die trübe Gegenwart: „Und zu Adam sprach er [der Herr; Anm. d. Verf.]: […] verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis dass du wieder zu Erde werdest […]“ (1 Mose 3,17–19) Auch Hesiod beklagt die Gegenwart: „Dass ich wäre gestorben zuvor, dass später geboren! Denn jetzt hauset ein eisern Geschlecht, das weder am Tage ausruhn wird von Mühen und Leid, noch während der Nachtzeit, völlig verderbt; auch senden die Götter noch lastende Sorgen […]“ Früher war eben alles besser.
Während die Geschichte von Atlantis von Platon und das Paradies der Arbeiter von Karl Marx offensichtlich erfunden wurden, um ihren Idealvorstellungen von Staat und Gesellschaft einen plastischen Hintergrund zu geben, lassen sich die älteren Mythen mit großer Wahrscheinlichkeit auf ein außerordentliches historisches Ereignis zurückführen, nämlich auf die Neolithische Revolution. Damit ist der Übergang von der Lebensweise als Jäger zu dem Ernährungs- und Lebensprinzip von Ackerbau und Viehzucht nach dem Ende der Eiszeit vor 10 000 Jahren gemeint, der einen völligen Umbruch des Alltagslebens, der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Beziehung zur Natur bedeu-tete. „Was in den mythischen Erzählungen vom Ende des Goldenen Zeitalters und vom Sündenfall mit der dadurch bewirkten Vertreibung aus dem Paradies zum Ausdruck gebracht wird, könnte sich sehr wohl auf die Psychoevolu-tion am Beginn des Neolithikums beziehen: Das die Urzeit kennzeichnende Einssein mit der natürlichen Umwelt [der Jägerzeit; Anm. d. Verf.] […] war unwiederbringlich dahin.“ (Müller-Karpe, H., Geschichte der Steinzeit, S. 47)
Einen festen Ort für das Paradies oder den Garten Eden anzunehmen entspricht nicht dem historischen Verständnis dieser Übergangszeit, denn der Klimawechsel und damit die Notwendigkeit einer Veränderung der Lebensweise erstreckte sich über den gesamten europäischen und vorderasiatischen Bereich. Der erste Ackerbau wird in einem Bogen von Palästina über die Osttürkei und dann für das Euphrat-Tigris-Tal angenommen, dem sogenannten fruchtbaren Halbmond, sodass in diesem Gebiet sicherlich auch das Paradies vermutet werden muss. Infolge der Klimaerwärmung vor etwa 10 000 Jahren waren die früheren fruchtbaren Steppengebiete mit reichen Wildbeständen ausgetrocknet, aber wegen ihrer hohen Fruchtbarkeit für eine erste Landwirtschaft mit dem Anbau von Einkorn gut geeignet. Wahrscheinlich waren beide Lebensweisen bei abnehmenden Wildbeständen einige Hundert oder Tausend Jahre lang nebeneinander betrieben worden, wobei die größere Mühsal mit dem Ackerbau im Laufe der Zeit immer deutlicher wurde.
Wie konnten die Menschen am Beginn der neuen Zeit auf den Gedanken kommen, dass die früheren Zeiten besser waren? Mussten nicht die Menschen der Eiszeit in bitteren Klimaverhältnissen leben, hatten sie nicht ständig mit Schnee und Frost zu kämpfen, und war ihre Ernährungsweise nicht direkt lebensgefährlich – mit der Jagd auf Mammuts oder Waldelefanten, mit einem Holzspeer oder einer Stoßlanze als Waffe auf Tuchfühlung oder besser Fellfühlung? Ein offensichtlich stark negativ empfundener Wandel in der Lebensform waren die intensive Arbeitsleistung, die der Ackerbau erforderte, und der notwendigerweise stereotype Arbeitsablauf in der Viehzucht, was beides im Jäger-leben der Eiszeit unbekannt war. Die Jagd war zwar gefährlich, aber sie war eine gut geplante und koordinierte Gemeinschaftsaktion, und wenn sie erfolgreich war, dann reichte der Fleischvorrat für die Gruppe erst einmal für einige Wochen. Ein erwachsenes Mammut brachte immerhin fünf Tonnen auf die Waage, und bei den gegenüber heute deutlich niedrigeren Temperaturen gab es sicherlich einfache Konservierungsmethoden. Nach der Jagd und Versorgung des erlegten Wildes gab es wieder viel freie Zeit, die für handwerkliche und auch schöpferische Tätigkeiten, wie etwa für die Höhlenmalereien, genutzt werden konnte, und gegen die Kälte gab es ja das Feuer. Nach der Neolithischen Revolution aber wurde die verstandesmäßig organisierte Zusammenarbeit auf der Jagd, durch die unsere Vorfahren ja Sprache und damit abstraktes, symbolisches Denken erlernt hatten und die in der Eiszeit immer nur zeitweilig notwendig war, mit der Landbewirtschaftung auf einen Dauerzustand ausgedehnt. Der Jäger wurde zum Arbeiter oder sogar zum Sklaven, und es ist verständlich, dass er sich an die Zeiten seiner Vorfahren in einem angenehmen Kontext erinnerte.