Zwei Herzen in einer Brust

| Text: Ilka Dorn |

Eine Bockjagd im eigenen Revier im Hunsrück bedeutet für HALALI-Redakteurin Ilka Dorn einerseits, dass sie den inneren Schweinehund überwinden muss. Doch sie weiß andererseits, dass sich das frühe Aufstehen aus vielerlei Gründen lohnt.

Das Klingeln wird immer durchdringender. Drang es anfangs nur leise in mein Unterbewusstsein und ließ es sich noch gut in meine Träume integrieren, so kann ich den hartnäckigen, sich ständig steigern-den Ton nun nicht mehr ignorieren. Ich taste nach meinem Handy und schaffe es, den Störfaktor zu beseitigen. Jetzt liege ich auf dem Rücken im Bett. Die Augen noch geschlossen, denn es ist eh stock-dunkel im Zimmer. Ich kämpfe mit mir.

Der Wecker hat um 3.45 Uhr geklingelt – viel zu früh für ein Wochenende; die Bettdecke ist wohlig warm und die Versuchung groß, mich einfach wieder meinen Träumen hinzugeben. Warum mache ich das nur? Und dann schießt mir wieder der Gedanke durch den Kopf, den ich mir immer wieder vorsage, wenn ich es doch geschafft habe, aus dem Bett zu kommen: weil es jede einzelne Minute wert ist!

Seufzend schlage ich die Bettdecke zurück. In der Hütte ist es über Nacht kalt geworden, und ich fange an zu frieren. Sollte ich doch lieber in die weichen Kissen zurücksinken? Nein, da muss ich jetzt durch. Schlaftrunken taumle ich die Treppe hinunter, jetzt erst öffne ich langsam meine Augen, erst eines, dann das andere. Das Licht unten im Badezimmer blendet mich, Zähneputzen muss sein, egal, wie früh, den Rest erledigen ein paar Spritzer kalten Wassers ins Gesicht. Langsam geht es mir besser. Ich bin kein Morgenmensch, hatte schon immer meine Schwierigkeiten, morgens früh aufzustehen, und brauche in der Regel meine zehn bis 15 Minuten Aufwachzeit. Doch die habe ich jetzt nicht. Hier zählt jede Minute, denn je eher ich draußen bin, umso größer ist die Chance, dass ich das Wild nicht vergräme und Anblick haben werde.

Meine Sachen liegen bereits vorbereitet auf dem Stuhl. Es ist Ende Mai, aber immer noch frisch für die Jahreszeit, und so ziehe ich lieber noch eine lange Unterhose an, denn wenn die Müdigkeit mich wieder übermannen sollte, wird mir immer kalt auf dem Hochsitz. Die Waffe steht noch im Waffenschrank, der Rest liegt schon bereit. Ich gehe nicht gerne mit großem Gepäck und Rucksack auf die Jagd, deshalb versuche ich alles am Körper mitzuführen. Patronen, Messer, Fernglas und die Waffe über der Schulter – das sollte reichen.

Ich öffne leise die Tür der kleinen Jagdhütte, da ich den Rest der Familie nicht wecken möchte. Drau-ßen empfängt mich noch Dunkelheit, doch Richtung Osten hin wird es bereits ein wenig heller, und das tiefe Schwarz der Nacht weicht einem Dunkelgrau. Ich muss mich beeilen, damit ich es noch rechtzeitig schaffe. Denn heute Morgen möchte ich an eine Stelle, an der das Wild erfahrungsgemäß schon früh aktiv ist. Der Sitz dort – die Sumpfkanzel genannt – liegt am Rande eines Wäldchens. Man muss durch den Bestand, um zum Hochsitz zu gelangen, und die Gefahr besteht, dass sich bereits Wild im Hochwald befindet, das sich gerade anschickt, aufs Feld auszutreten. Oder das Wild liegt bereits im hohen Gras auf der sumpfigen Wiese vor dem Hochsitz. Um es nicht zu vergrämen, versuchen wir immer so früh wie möglich – weit vor Beginn des Büchsenlichts – auf dem Hochsitz anzukommen.

Es ist windstill, und kaum ein Laut ist zu hören. Weit in der Ferne höre ich ein Käuzchen rufen, viel-leicht ziehen da noch die Sauen durch den Wald auf dem Weg zurück in ihren Einstand. Ich kenne den Weg zum Hochsitz in- und auswendig. Ich weiß, auf welcher Seite des Weges die Pfützen und die matschigen Stellen sind, wo man geräuschlos gehen kann und wo noch das raschelnde Laub und die knackenden Zweige aus dem letzten Jahr liegen. Auch den umgefallenen kleinen Baum kenne ich und weiß genau, wie ich ihn umgehen kann, um möglichst keinen Laut zu machen. Zum Hochsitz ist es nicht mehr weit, vielleicht 100 Meter, aber die haben es in sich. Links von mir liegt lichter Buchenhochwald und rechts von mir eine alte Aufforstungsfläche mit Erlen, Eschen und Haselnusssträuchern. Auch diese Fläche ist licht, und durch den lockeren, feuchten Boden breitet sich hier das Springkraut immer mehr aus, sodass im Frühjahr fast der gesamte Boden damit bedeckt ist. Hier liegt das Wild nachts gerne, denn das halbhohe Kraut verspricht Deckung, und die Bäume verheißen Schutz vor Regen. Außerdem laden einige Suhlen das Schwarzwild ein, hier zu verweilen.

Jetzt muss ich besondere Vorsicht walten lassen, sollte in diesem Moment das Rehwild eventuell noch laut schreckend abspringen, wäre der Ansitz vorbei, bevor er so richtig begonnen hat. Meine Augen haben sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt, und die Sterne und die ganz schwache Dämmerung geben mir genug Licht, damit ich ohne Taschenlampe zum Hochsitz finde. Ich bin kein Freund der Taschenlampe, benutze sie morgens auf dem Weg zum Hochsitz und abends auf dem Weg vom Hochsitz nie, da ich mir damit immer wie ein Störenfried inmitten der Natur vorkomme. Ich kann genug erkennen, kann die Schatten der Bäume sehen, das Spiegeln der Sterne in den Wasserpfützen auf dem Weg und weiter vorn die lichte und damit etwas hellere Fläche am Waldrand erahnen, dort, wo der dunkle Wald in das offene Feld und die Wiese übergeht und wo der Hochsitz steht.

Sie finden den Artikel spannend und möchten ihn gern weiterlesen?
Dann lohnt es sich, die Ausgabe 03 | 2020 zu kaufen.